BLAULICHT

Überraschende Wende: Während des Prozesses taucht Video der Todesfahrt auf

pn; 06.07.2022, 21:40 Uhr
Archivfoto: Polizei Oberberg ---- Für einen 28-Jährigen endete die Heimfahrt aus einem Biergarten in Windeck im vergangenen Sommer tödlich. Der Unfall ist nun Gegenstand eines Gerichtsverfahrens.
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Überraschende Wende: Während des Prozesses taucht Video der Todesfahrt auf

pn; 06.07.2022, 21:40 Uhr
Morsbach - 24-Jähriger muss sich vor dem Amtsgericht Waldbröl verantworten, nachdem er im vergangenen Sommer alkoholisiert einen tödlichen Unfall verursacht haben soll.

Von Peter Notbohm

 

Geradezu ungläubig blickte Richter Carsten Becker in Richtung des Vertreters der Nebenklage. Nach beinahe zweistündiger Verhandlung hatte dieser dem Schöffengericht aus dem Nichts offenbart, dass es Videos der Todesfahrt in Morsbach vom 11. Juni des vergangenen Jahres gebe. Wegen dieser verantworten musste sich heute vor dem Amtsgericht Waldbröl ein 24-jähriger Morsbacher. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm eine Trunkenheitsfahrt sowie Gefährdung des Straßenverkehrs durch rücksichtsloses Verhalten vor, wodurch er das Leben seiner beiden Mitfahrer gefährdet habe. Die Aufnahmen stammten vom Handy des Verstorbenen. Die Polizei hatte diese damals nicht gefunden, nun wurden sie völlig überraschend von dessen Familie in das Verfahren eingebracht.

 

Tödlicher Unfall nach Überholmanöver

 

Es war das tragische Ende eines feuchtfröhlichen Freitagabends in geselliger Runde: Gegen 23:25 Uhr waren die drei Freunde Stefan P. (Anm.d.Red.: Alle Namen geändert), Ahmed J. und Martin T. laut Anklageschrift mit einem VW Golf 6 Cabrio auf der L 324 zwischen Holpe und Appenhagen unterwegs. Im Schlepptau hatten sie André S., der dem Wagen auf seinem Motorrad folgte. Sie kamen aus Windeck, wo sie über Stunden in einem Biergarten gefeiert haben sollen.

 

Nachdem Stefan P. am Ortsausgang Holpe zwei Wagen überholt haben soll, kam der Wagen in einer leichten Linkskurve ins Schlingern, geriet nach rechts von der Fahrbahn ab und überschlug sich im Straßengraben auf einer Strecke von 40 Metern mehrfach. Stefan P. und Ahmed J. waren beide laut einem Gutachter nicht angeschnallt. Der 28-jährige Beifahrer, der während der Fahrt von Windeck nach Morsbach zuvor auch für mehrere Sekunden im Auto gestanden haben soll, um den Fahrtwind zu genießen, wurde aus dem Wagen geschleudert und verstarb trotz Reanimationsversuchen noch vor Ort. Eine etwa zwei Stunden nach dem Unfall genommene Blutprobe bei Stefan P. ergab einen Wert von 1,36 Promille. Auch ein Drogenschnelltest war positiv. Analysen ergaben aber, dass der THC-Wert der genommenen Probe nicht auswertbar war, was für einen früheren Cannabis-Konsum spreche.

 

Angeklagter gab an, sich an kaum etwas zu erinnern

 

Die Verhandlung begann zunächst mit einem Geständnis von Stefan P., verlesen durch seinen Verteidiger Bernhard Scholz. Sein Mandant stelle die ihm vorgeworfene Tat nicht in Abrede, er könne sich aber auch nur noch schemenhaft an die Geschehnisse erinnern. Bei dieser Bemerkung ging ein erstes Raunen durch den bis auf den letzten Platz gefüllten Gerichtssaal: Fast die gesamte Familie von Ahmed J. war anwesend – darunter auch sein kleiner Sohn. Während der Verhandlung kamen aus dem Zuschauerraum immer wieder Zwischenrufe, dass der Angeklagte bei seinen Aussagen lüge – mehrmals flossen auch Tränen bei den Angehörigen.

 

Nachdem er gegen 20 Uhr seine Freundin nach Hause gebracht hatte, sei er wieder zu der Feier nach Windeck gefahren. „Dann ist der Abend leider anders gelaufen als geplant“, so der 24-Jährige. Er habe niemals vorgehabt, so viel Alkohol zu trinken. Es tue ihm unheimlich leid, was passiert sei, zumal der Verstorbene sein bester Freund gewesen sei – er lebte damals sogar noch Tür an Tür in einem Wohnhaus mit dessen Mutter. Dass er bis heute keinen Versuch unternommen habe, sich bei der Familie zu entschuldigen, begründete er damit, dass man ihm zu verstehen gegeben habe, dass er Abstand halten soll.

 

Kellnerin berichtet von stolzer Rechnung

 

Bei der Frage nach dem konsumierten Alkohol drucksten aber sowohl Stefan P. als auch Martin T. und André S. herum. Über den Abend sei die Gruppe zwischenzeitlich auf zwölf Bekannte angewachsen, am Ende waren nur die vier übriggeblieben. Er habe Bier und Schnaps getrunken – wie viel wisse er aber nicht mehr - hieß es vom Angeklagten, der sich bei dem Unfall Platzwunden am Kopf, eine Verletzung am linken Knie und mehrere Prellungen zugezogen hatte. Er habe sich aber noch für fahrtüchtig gehalten. Martin T., der auf dem Rücksitz gesessen hatte, sprach von ein „paar Bier und ein, zwei Cocktails“, gab aber zu, nicht mehr fahrtüchtig gewesen zu sein. André S., der den Unfall nach eigener Aussage nicht gesehen hatte, wollte ebenfalls nur „zwei oder drei Bier und anschließend Cola“ getrunken haben.

 

Diese Mengen passten allerdings überhaupt nicht mit den Aussagen der 32-jährigen Kellnerin zusammen. Die Gruppe sei von 17 Uhr bis zum Ende da gewesen: „Es wurde sehr viel getrunken. Sie bestellten immer mehrere Getränke auf einmal.“ Neben Essen und Bier wurden reihenweise Mojitos und Mexikaner geordert. Sie könne sich noch sehr gut erinnern, weil es ihr erster Arbeitstag gewesen sei und seitdem nie wieder eine solch hohe Rechnung gehabt habe, ergänzte sie. Zudem habe sie den Verstorbenen über eine Freundin gekannt. Am Ende hatten die vier Männer insgesamt 360 Euro bezahlen müssen.

 

Sie habe der Gruppe sogar noch vorgeschlagen, sie nach Hause zu fahren - ein Angebot, von dem vor Gericht keiner der Beteiligten etwas gehört haben wollte. Als Antwort habe sie aber nur gesagt bekommen, dass Stefan P. fahren werde: „Sie meinten, der fährt immer so und ist das gewohnt.“ Sie habe ihren Chef noch um Rat gefragt, was sie tun solle, doch als sie den Männern anschließend die Schlüssel abnehmen wollte, waren diese bereits mit der letzten Runde verschwunden – zwei Mojito-Gläser sollte man später auf den Videoaufnahmen wiedersehen.

 

Videodateien zeigen Alkoholfahrt

 

Auch bei den Details zu der Autofahrt, bei der sich Cabrio und Motorrad mehrfach überholt haben sollen, beriefen sich alle Beteiligten vor allem auf Erinnerungslücken. Die Nebenklage, die keinen Hehl daraus machte, dass sie das Verfahren lieber wegen Totschlags vor dem Landgericht gesehen hätte, hielt André S. vor, er habe in einem Gespräch mit der Familie des Verunfallten behauptet, er habe seine Freunde letztlich weit vorfahren lassen, weil der Angeklagte immer wieder viel zu nah aufgefahren sei. Daran konnte sich dieser aber nicht mehr erinnern. Nachdem auch die weiteren bohrenden Fragen nicht zur Aufklärung beitrugen, zauberte der Nebenklagevertreter plötzlich die Videodateien aus dem Hut. „Ich habe selbst erst vor fünf Minuten von deren Existenz erfahren“, antwortete er dem entrüsteten Richter, warum er so entscheidende Beweismittel zurückgehalten habe.

 

Die drei Videos stammen vom Handy des Verunfallten und waren von der Familie in eine Cloud geladen worden. Zu sehen war auf den Clips nicht nur eine mehr als ausgelassene Stimmung von drei alkoholisierten jungen Männern, sondern auch, dass der Wagen höchstwahrscheinlich nicht mit überhöhter Geschwindigkeit unterwegs war. Das deckte sich auch mit den Aussagen des Unfallanalytikers der DEKRA. „Die zulässige Höchstgeschwindigkeit wurde nicht zwingend überschritten“, sagte er. Bremsspuren und Schäden an der Vegetation würden den Schluss zulassen, dass das Überholmanöver in der nicht gut einzusehenden Kurve wahrscheinlich ausschlaggebend für den Unfall gewesen sei.

 

Der Prozess wurde anschließend unterbrochen, um die Videodateien noch näher zu analysieren. Er soll in zwei Wochen mit weiteren Zeugen fortgesetzt werden.

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