KULTUR

„Der Vorleser“: Eine Einladung zur intensiven Auseinandersetzung

vma; 28.10.2023, 13:03 Uhr
WERBUNG
Fotos: Volker Beushausen --- Ein beeindruckendes Stück mit einer komplexen Geschichte erlebten die Gäste bei der Aufführung des Westfälischen Landestheaters.
KULTUR

„Der Vorleser“: Eine Einladung zur intensiven Auseinandersetzung

vma; 28.10.2023, 13:03 Uhr
Gummersbach – Das Westfälische Landestheater gastierte mit einer Bühnen-Adaption des bekannten Romans von Bernhard Schlink in der Halle 32.

Von Vera Marzinski

 

Das Ensemble des Westfälischen Landestheaters zeigte mit dem Stück „Der Vorleser“ von Bernhard Schlink in der Bühnenfassung von Mirjam Neidhart in der Halle 32 eine tiefsinnige Inszenierung. Über 100 Gäste erlebten einen Theaterabend, der eine komplexe Geschichte um Macht und Missbrauch, Schuld und Schicksal boten. „Was war jetzt besser?“ fragten sich zwei Besucherinnen nach der 105-minütigen Aufführung. „Der Film oder das Theaterstück?“ Im Grunde sei das Buch am besten, doch der Stoff passe überraschend gut ins Theater, so ihr Fazit.

 

[Guido Thurk war absolut großartig in seiner Rolle als emotional aufgewühlter Erzähler.]

 

Die Zuschauer blickten auf ein Bühnenbild, das mal Treppenhaus, Küche, Badewanne oder Gerichtssaal war. Als Ich-Erzähler beziehungsweise Vorleser befand sich Guido Thurk zunächst allein auf der Bühne - grandios mit einer gigantischen Textmenge und durchgängiger Präsenz. Er stand meist im Licht, das eher sparsam bei den Darstellern verwendet wurde - außer bei der Gerichtsverhandlung. In weiteren Rollen Tobias Schwieger als Michael Berg und Tina Scheibe als Hanna Schmitz sowie Friederike, Baldin als Mutter Sophie Beamtin, Zeugin und Gefängnisleiterin und Mike Kühne in den Rollen des Vaters, Straßenbahnfahrer, Bewohner, Dozent und Richter.

 

[Die schlicht gehaltene Bühne wird für die fünf Darsteller zum Gerichtssaal (v.li.): Richter (Mike Kühne), Hanna Schmitz (Tine Scheibe), Zeugin (Friederike Baldin), Vorleser (Guido Thurk) und Michael Berg (Tobias Schwieger).]

 

Die Erinnerungen des Vorlesers beginnen mit der ersten Begegnung des 15-jährigen Schülers Michael und der 21 Jahre älteren Hanna. Das erinnerte Glück und die Rituale von den Treffen der beiden: vorlesen, baden, lieben. Eine scheinbar unbeschwerte Zeit für beide. Und plötzlich ist Hanna weg. Ebenso schlagartig der Übergang in die Pause - etwas irritierend fürs Publikum. Bis dahin verging die Zeit wie im Flug, genauso wie im zweiten Teil, den die fünf Darsteller sehr fesselnd präsentierten.

 

WERBUNG

Hier traf der mittlerweile über 20-jährige Vorleser wieder auf Hanna, die auf der Anklagebank in einem Auschwitz-Prozess saß. Sie war beim Wachdienst der SS in Ausschwitz tätig und hatte einen Todesmarsch begleitet, bei dem bei einem Brand in einer Kirche viele Frauen umkamen. Aus Angst vor der Bloßstellung als Analphabetin nahm sie die Schuld auf sich. Michael kommt in moralische Bedrängnis - nimmt er ihr ihre Würde, wenn er handelt?

 

Das Stück weist hier den Unterschied zwischen moralischer und juristischer Schuld auf, rückt die Beteiligung am Holocaust in ein differenziertes Licht und stellt die Motive Verantwortung, Analphabetismus und Scham in den Fokus. Gemeinsam durchleben die Zuschauer mit dem Vorleser (Guido Thurk) ein Erwachen seiner Erinnerung. Er erlebt beim Lesen seine eigene Geschichte, interagiert mit Figuren seiner Vergangenheit und wird auch mit seinem jüngeren Ich konfrontiert.

 

[Sehr überzeugend spielten Tine Scheibe und Tobias Schwieger das ungleiche Paar Hanna und Michael.]

 

Mit „Der Vorleser“ gelang Bernhard Schlink der Durchbruch als Schriftsteller. Von 1988 bis 2006 war er Richter am Verfassungsgerichtshof Nordrhein-Westfalen in Münster, danach konzentrierte sich sein Schwerpunkt mehr und mehr aufs Schreiben. Der 1995 erschienene Roman um die komplexen Fragen von Schuld und Verantwortung in der Folge des Holocausts ist bis heute in über 50 Sprachen übersetzt und mit Kate Winslet und David Kross erfolgreich verfilmt worden - und auch als Theaterstück mehr als beeindruckend.

WERBUNG