LOKALMIX

Zwischen Krieg und Integration

ks; 30.12.2022, 14:30 Uhr
Foto: privat --- (v.l.) Oleksandra Taranec aus Borowa, Alla Kurkova aus Cherson, die Gummersbacherin Valentyna Butulay, Natalia Harkava aus Slowjansk und Andrea Missbrandt von der Caritas Oberberg haben zusammen auf die Erlebnisse der vergangenen zehn Monate zurückgeblickt.
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Zwischen Krieg und Integration

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ks; 30.12.2022, 14:30 Uhr
Gummersbach – Vor zehn Monaten kamen die ersten Geflüchteten aus der Ukraine in Oberberg an – Vor dem Jahreswechsel fragt Oberberg-Aktuell rückblickend, wie ist es den Menschen seit ihrer Ankunft ergangen ist.

Die Ereignisse vom 24. Februar dieses Jahres haben weltweit Menschen erschüttert. Das Datum, an dem Wladimir Putin seinen verheerenden Angriffskrieg auf die Ukraine startete, hat sich in unzählige Köpfe eingebrannt. Millionen Menschen flüchteten aus der Ukraine, ließen den Partner, die Eltern oder gar das eigene Kind zurück. Ukrainische Kennzeichen auf deutschen Straßen sind seither keine Seltenheit mehr, sondern Alltag – und auch im Oberbergischen sind in den vergangenen zehn Monaten zahlreiche Geflüchtete angekommen, zum Großteil Frauen und Kinder. Für viele Menschen gehört es dazu, am Ende eines Jahres Bilanz zu ziehen: Welche Erfahrungen haben also die ukrainischen Geflüchteten im Oberbergischen gemacht? Was lief gut? Was ist verbesserungswürdig?

 

Einerseits erleben die Menschen hier Sicherheit, dürfen ankommen, zur Ruhe kommen – und andererseits sind viele von Kummer und Sorgen gezeichnet. „Die Belastungen sieht man den Frauen an“, findet auch Valentyna Butulay. Die Gummersbacherin stammt ebenfalls aus der Ukraine, kam 1999 nach Deutschland. Seit Beginn des Angriffskrieges engagiert sie sich für ihre Landsleute, sammelt Spenden, organisiert Hilfslieferungen. Über die Sozialen Medien wurde Andrea Missbrandt von der Caritas Oberberg auf Butulay aufmerksam, nahm Kontakt auf. Am 1. März lernten sich die beiden Frauen kennen, inmitten von unzähligen Kartons. Bereits drei Tage später wurde der erste Hilfstransport losgeschickt.

 

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„Wir müssen etwas tun.“ Mit diesem Satz wandte sich Missbrandt Ende Februar an den Vorstand der oberbergischen Caritas. Ein Satz, der Vorstandsmitglied Andreas Rostalski besonders in Erinnerung geblieben ist. Die Caritas sammelt nicht nur Spenden und organisiert Hilfstransporte, sondern hat in der Gummersbacher Wilhelmstraße mit dem „Mittendrin“ einen Anlaufpunkt für Geflüchtete geschaffen. Genutzt wird dieser unter anderem als Treffpunkt, für die Ausgabe von Erstausstattungen sowie für Sprachkurse. Im „Mittendrin“ kommen die ukrainischen Geflüchteten zusammen, teilen ihre Nöte, Sorgen und Ängste – insbesondere nach Bombardierungen, wenn sie noch keine Nachrichten von ihren Angehörigen erhalten haben. Zusammen zu sitzen, zu bangen und zu warten, „das ist sehr wichtig für sie“, so Missbrandt. Und so findet auch Butulay: „Das ‚Mittendrin‘ ist Gold wert.“

 

Doch viele der Geflüchteten, ob erwachsen oder heranwachsend, seien nach wie vor traumatisiert. Zwar haben sie durch ihre Flucht eine räumliche Distanz zum Kriegsgeschehen geschaffen, doch die Schrecken des Krieges lassen sie auch hier nicht los. Jeden Morgen würden die Ukrainer sich über die aktuelle Lage informieren, direkt nach dem Aufwachen. Auch das belaste. „Manche brauchen psychologische Unterstützung“, sagt Butulay. Dies zu organisieren ist jedoch schwierig. Mehrere Monate auf den Beginn einer Psychotherapie zu warten, ist in Deutschland Alltag. Hinzu komme die Sprachbarriere.

 

Auch vom Ärztemangel seien die Ukrainer massiv betroffen. Oleksandra Taranec kam im März mit ihrem zehnjährigen Sohn nach Gummersbach. Bislang habe sie für ihren Sohn noch keinen Kinderarzt gefunden. „Und so geht es vielen ukrainischen Müttern“, ergänzt Butulay. Bei den Erwachsenen sei die Situation nicht anders, denn auch sie würden kaum von Hausärzten angenommen werden. Während sich Deutsche darüber kaum noch wundern, kennen die Ukrainer aus ihrer Heimat einen anderen Zugang zur medizinischen Versorgung. Ob kostenfreie Behandlungen in Polikliniken oder für die Allgemeinheit erschwingliche Untersuchungen in Privatkliniken: noch am selben oder darauffolgenden Tag einen Arzttermin zu erhalten, sei in der Ukraine laut Butulay völlig normal.

 

Der mangelnde Zugang zur primären Gesundheitsversorgung habe einige Ukrainer in den vergangenen Monaten in die Zwickmühle gebracht. Fragen wie „Was ist ein Notfall?“ und „Wann darf man den Rettungsdienst rufen?“ werden immer wieder gestellt, denn die Verunsicherung in der Community sei mittlerweile groß. Mehrfach sei es dazu gekommen, dass Geflüchtete aus ihrer Not heraus den Rettungsdienst gerufen haben, um Hilfe zu bekommen – und anschließend eine Rechnung erhielten. Missbrandt und Butulay nennen eine Summe in Höhe von 500 Euro, die den Geflüchteten in Rechnung gestellt worden sei. Dem gegenüber stehen monatlich 475 Euro, die sie vom Sozialamt erhalten.

 

Sprachbarrieren gebe es nicht zuletzt auch an den Schulen. Oftmals seien russischsprachige Kinder von ihren Lehrkräften gebeten worden, sich den ukrainischen Kindern anzunehmen. Vor allem im Frühjahr und im Sommer sei es dabei häufiger zu Konflikten gekommen – abhängig davon, welche Meinungen die Eltern der russischsprachigen Kinder hinsichtlich des Krieges vertreten. Damit fanden die kriegerischen Auseinandersetzungen der Erwachsenen ihren Weg in deutsche Klassenzimmer. Auch Kinder, die keiner der beiden Sprachen mächtig sind, seien dabei laut Butulay involviert gewesen. So seien ihnen von russischsprachigen Kindern Schimpfwörter beigebracht worden – folglich wurden Beleidigungen ausgesprochen, die von den Lehrkräften oftmals unbemerkt blieben.

 

Für die Ukrainer ist die Sprachbarriere damit ein zentrales Problem. „Sie merken, wie schwach sie sind, wenn sie sich nicht verständigen können. Dabei möchten sie kommunizieren, sich unterhalten – auch wenn sie Hemmungen haben und befürchten, grammatikalische Fehler zu machen“, so Butulay. Im Alltag, wie etwa beim Einkaufen, würden sie sich gut zurechtfinden. Gleiches gelte für das Bearbeiten von behördlichen Dokumenten, die sie mit Hilfe von Smartphones übersetzen. Trotzdem: „Sie möchten unbedingt Deutsch lernen“, sagt auch Missbrandt.

 

Oleksandra Taranec, Natalia Harkava und Alla Kurkova sind dankbar für den Schutz, die Sicherheit und die vielfältige Unterstützung, die sie in Oberberg erfahren. Ihre oberbergischen Mitmenschen erleben sie als sehr freundlich und zugewandt, auch die Kontakte zum Sozialamt seien sehr gut. Dabei ist Integration keine Einbahnstraße. Essentiell sei, aufeinander zuzugehen, einander zu verstehen, voneinander zu lernen – und das wird im „Mittendrin“ gelebt.

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