LOKALMIX

„Erinnerung reicht nicht, wir müssen uns auch wehren“

pn; 05.02.2020, 05:30 Uhr
Fotos: Michael Kleinjung --- Eine Gruppe muslimischer und christlicher Schüler des Wüllenweber-Gymnasiums wird am Wochenende zu einer interreligiösen Reise nach Krakau und Ausschwitz aufbrechen.
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„Erinnerung reicht nicht, wir müssen uns auch wehren“

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pn; 05.02.2020, 05:30 Uhr
Bergneustadt – Die Holocaust-Überlebende Tamar Dreifuss war zu Gast am Wüllenweber-Gymnasium – Beklemmende Erzählungen über die NS-Zeit.

Von Peter Notbohm

 

Die Aula des Bergneustädter Wüllenweber-Gymnasiums ist fast vollständig gefüllt, eine Stecknadel hätte man trotzdem fallen hören können. Gebannt lauschen die Schüler der Klassen 9 bis 12 den beklemmenden Schilderungen von Tamar Dreifuss. Die 81-Jährige ist Holocaust-Überlebende und erzählt aus ihrer Kindheit: Vom Verstecken vor den Nazis in ihrer litauischen Heimatstadt Wilna (heutiges Vilnius), über die Deportation in das Durchgangslager Tauroggen bis hin zur Flucht aus diesem. Dreifuss schont weder sich, noch ihre Zuhörer, wenn sie Passagen aus dem Buch ihrer Mutter ‚Sag niemals, das ist dein letzter Weg‘ vorliest und kommentiert.

 

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[Tamar Dreifuss gehört zu den letzten Zeitzeugen des NS-Völkermordes an den Juden. Ihrer Mutter (Foto im Hintergrund) hat sie ihr Leben zu verdanken.]

 

„Das sind meine Tropfen, die ich hinterlasse“, sagt die Frau, die heute in Pulheim bei Köln lebt, selbst ein Kinderbuch ‚Die wundersame Rettung der kleinen Tamar 1944. Ein kleines jüdisches Mädchen überlebt den Holocaust in Osteuropa‘ verfasst hat und seit fast 20 Jahren Schülern von ihren grausamen Erlebnissen berichtet, um damit das Vergessen an die schreckliche NS-Zeit zu verhindern. Als sie drei Jahre alt war, marschierte die deutsche Armee in Wilna ein – von diesem Tag an war in der stark jüdisch geprägten Stadt (etwa 80.000 der 270.000 Einwohner waren Juden) nichts mehr wie zuvor. Ihre Eltern änderten aus Furcht ihre eigenen Namen und mussten einer Dreijährigen plötzlich beibringen, dass sie nicht mehr Tamar heiße, sondern Teresa. „Wie kann man einem Kind so etwas sagen“, fragt Dreifuss in den Saal.

 

Während ihre Eltern im Ghetto von Wilna lebten, wurde die kleine Tamar bei einer christlichen Tante versteckt, verriet in ihrer kindlichen Naivität aber einem Gestapomann, der ebenfalls dort lebte, aus Versehen den echten Namen ihres Vaters: Ihre Eltern mussten sie zu sich ins Ghetto holen. Dort starben auch Dreifuss Großeltern – sie gehörten zu den ersten Opfern und wurden an Jom Kippur, dem wichtigsten jüdischen Feiertag, aus der Synagoge gezerrt und erschossen. Auch ihr Vater wurde etwa ein halbes Jahr später ins Konzentrationslager Stutthof gebracht. „Das ist das einzige Lager, das ich jemals besucht habe, weil ich wissen wollte, wie mein Vater gestorben ist“, erzählt die 81-Jährige – eine Antwort habe sie aber nie gefunden.

 

Dreifuss und ihre Mutter verließen das Ghetto von Wilna nur wenige Tage später: In Viehwaggons ging es ins Zwischenlager Tauroggen. Drei Mal habe ihre Mutter versucht zu fliehen, jeder Versuch scheiterte und wurde mit Peitschenhieben und Schlägen bestraft. Beklemmend auch ihre Erzählungen aus dem Lager, wo ein Gestapomann die Menschen nach links und rechts mit einem Stock „dirigiert“ habe: „Er hat zu meiner Mama gesagt: ‚Lass das Kind los. Du bist jung, du kannst arbeiten.‘ Sie hat mich auf den Arm genommen und gesagt: ‚Nur über meine Leiche – Ich lass mein Kind nicht los.‘ Da dirigierte er sie nach rechts und ich wusste, das bedeutet den Tod.“

 

[Schulleiterin Monika Türpe (links) dankte Dreifuss für den Besuch und sagte, dass man versuche werde, den Weg fortzusetzen, dass in Deutschland nie wieder die falschen Menschen an die Macht kämen.]

 

Doch Dreifuss Mutter startete kurz darauf einen letzten Fluchtversuch, der wie durch ein Wunder und mit viel Glück gelang. „Meine Mutter sagte immer: ‚Lieber auf der Flucht sterben, als wie ein Kalb zur Schlachtbank geführt werden‘.“ Die verbleibende Zeit des Zweiten Weltkriegs versteckten sich beide auf einem Bauernhof, ehe sie nach dem Vormarsch der Roten Armee in ihre zerstörte Heimat zurückkehren konnten. Nach dem Krieg kam Dreifuss 1948 über Umwege nach Israel, ehe sie – mittlerweile verheiratet – ihrem Mann 1959 nach Deutschland folgte. „Anfangs hatte ich Hassgefühle und wollte zurück nach Israel“, gesteht die überzeugte Jüdin. Ob sie Adolf Hitler gerne umgebracht hätte, wenn sie die Möglichkeit gehabt hätte, fragt ein Schüler. Auch hier ist die Frau ehrlich: „Ich hätte ihn mit beiden Händen erwürgt.“

 

Mittlerweile ist sie aber versöhnlicher und wisse, wie wichtig es sei, dass sie Menschen ihre Geschichte und die Gräueltaten der Nazis immer wieder erzähle. Denn Angst macht ihr das Wiedererstarken der rechten Kräfte und des Antisemitismus in Deutschland. „Uns nur daran zu erinnern reicht nicht. Wir müssen uns wehren und dem Fremdenhass entgegentreten“, fordert sie die Schüler zu couragiertem Handeln auf.

 

 

Der Vortrag der Holocaust-Überlebenden ist für die Schüler ein Teil der Vorbereitung auf eine interreligiöse Reise nach Krakau und Ausschwitz vom 8. bis 12. Februar. Die muslimischen und christlichen Schüler besuchten bereits den Kölner Dom, eine Synagoge und die Zentralmoschee. Die Idee zur interreligiösen Fahrt, die vom Kommunalen Integrationszentrum Oberberg unterstützt wird, entstand in einem interreligiösen Gespräch zwischen der evangelischen Kirche, der katholischen Kirche und der muslimischen Gemeinde, die damit ein Zeichen für Frieden und Versöhnung setzen wollen.

 

Für den Dialogbeauftragten Rafet Öztürk ein in Deutschland einmaliges Projekt: „Wenn man in der Gesellschaft die Pluralität vorantreiben will, muss man Impulse geben, gemeinsame Wege zu gehen.“ Auch der evangelische Pfarrer Matthias Weichert, Schulreferent des Kirchenkreises An der Agger, betont den Bildungsauftrag gegenüber den Jugendlichen: „Die Unterschiede zwischen den Religionen sind nicht trennend. Wir leben zusammen, erziehen zusammen und haben die gleichen Werte.“

KOMMENTARE

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Ich hoffe, das dies jetzt nicht falsch verstanden wird und deshalb vorab, ich halte derartige Besuche in Auschwitz oder Krakau auch für sehr wichtig.
Frage mich aber, warum nie mal jemand auf die Idee kommt einen Besuch bei der türkischen Familie in Solingen (Brandanschlag Solingen 1993) zu organisieren. Oder die Anwälte der Opfer der NSU-Attentate einzuladen?
Das geht jetzt nicht nur in Richtung Frau Türpe, sondern allgemein an alle Schulleiter oder Vereine in Bergneustadt.
Man sollte auch mal dringend auf den Faschimus der Neuzeit hinweisen..

Aydin Arslan, 05.02.2020, 12:38 Uhr
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