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Eine .45er und die Neuordnung der Dinge

cn; 17. Nov 2008, 00:00 Uhr
Oberberg Aktuell
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Eine .45er und die Neuordnung der Dinge

cn; 17. Nov 2008, 00:00 Uhr
(cn/2.11.2008-17:00) Von Christian Neeb
Gummersbach - Mutig, stark, erschütternd. Mit "AMOK" aus der Feder Holger Hennings nach Richard Bachmans Vorlage gelingt der Schauspielklasse des Bruno Goller-Hauses ein beklemmend aktuelles Sozialbildnis.
[Bilder: Christian Neeb - Die Perspektive macht's. Die Zuschauer sitzen mit den Opfern in den Schulbänken und erfahren so den Horror am eigenen Leib.]

"Manchmal fühl ich mich wie ein weißes Laken auf einer Wäscheleine." Diese verzweifelten Worte über die Leere im Inneren stammen nicht von Charlie Decker, der nach seinem Schulverweis zurück in die Klasse läuft, der Algebra Lehrerin in den Kopf schießt und seine Schulkameraden als Geiseln nimmt. Sie stammen von seiner Mitschülerin. Eine von denen, die im Laufe der Ereignisse ihre coole Fassade ablegen und ihre Wut und Angst offenbaren. Und das alles initiiert durch einen Schuß.

[Die Wut kanalisiert Charlie (genial: Sebastian Brings) durch Gewalt und Psycho-Spiele.]

Der Knall durchbricht das Geschnatter in der Klasse. Stille, dann ein hysterisches Kreischen. Nach dem Rauswurf durch den Rektor holt Charlie die Waffe seines Vaters aus dem Spint und entledigt sich der verhassten Mathe-Lehrerin. In grelles Neonlicht getaucht, versuchen die Schüler das Unbegreifliche zu realisieren. Verdunkelt sich das Licht, spulen sich langsam die Gedanken der gesamten Klasse ab, schwellen zur chaotischen Kakophonie und brechen durch das erneut aufflackernde Licht wieder ab. Nervosität macht sich breit. Ob lautes Kreischen, leises Wimmern oder zappeliges Beinewippen.

"Ich schätze ich bin gerade durchgedreht", stellt der Amokläufer nüchtern fest und langsam beginnen die anderen zu begreifen, was nun geschieht. Mit der Waffe zwingt Charlie Mitschüler und den Schulpsychologen dazu, ihre intimsten Geheimnisse preiszugeben.

[Täter und Opfer verbünden sich gemeinsam gegen die Welt da draußen.]

Nach dem anfänglichen Schrecken legt sich die Bestürzung der Klasse und die Jugendlichen merken: So wie mir geht es auch den anderen. Mit der .45er in der Hand setzt Charlie nach und nach alle gesellschaftlichen Regeln außer Kraft und das Klassenzimmer wird zum ethischen Vakuum. Die anderen Gebeutelten schließen sich dem Verzweifelten an und stärken ihm den Rücken: "Los Charlie, fick sie alle." Bis zum Schluß deutlich wird, das die Luftblase in der sich Täter und Opfer die Katharsis ersehnen, platzen muss.

Holger Henning ist mit "AMOK" Bemerkenswertes gelungen. Mit ruhiger Hand inszeniert, kommt das Stück nach der brillianten Vorlage Richard Bachmans, alias Stephen King, mit einem Schauplatz aus, der den Zuschauern keine Möglichkeit lässt, sich von dem Geschehen zu distanzieren. Die knapp dreißig Jahre alte Vorlage wirkt nach Emstetten erschreckend aktuell. Ohne Sensationswut beobachtet der Fall kühl, wie die brutalen Mühlen der Gesellschaft junges Leben zerstören. Ob das Problem-Elternhaus mit der alkoholkranken Mutter, Mobbing oder Stress in der Schule. Möglich wird die Achterbahnfahrt der Emotionen durch das tolle Ensemble, allen voran Sebastian Brings, der dem Täter eine ungeahnte Intensität verleiht. Das mutige Projekt zieht in den Bann und macht die Zerissenheit der jungen Generation greifbar. Am Ende steht die Erkenntnis: Der Amokläufer ist mit seinem Schicksal kein Einzelfall, sondern einer von vielen. Der Eine, der den Abzug drückt, weil er seinen Schmerz nicht anders kanalisieren kann. Der Eine, mit dem man als Zuschauer sympathisiert, bis man erschreckt feststellt: Er ist doch ein Mörder. "Du tust mir leid, Charlie."


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