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Des Hollenberg-Gymnasiums „Die Physiker“ - Ohnmacht gegen Kriminalität

age; 17. Jun 2004, 06:22 Uhr
Oberberg Aktuell
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Des Hollenberg-Gymnasiums „Die Physiker“ - Ohnmacht gegen Kriminalität

age; 17. Jun 2004, 06:22 Uhr
(age/5.6.2004-14:20) Waldbröl - Eine stramme Leistung boten Waldbröls Theater-Eleven des Hollenberg-Gymnasiums eine ganze Woche lang.
[Bilder (8): Oliver Mengedoht.]

Dürrenmatts „Die Physiker“ ist, was das Verständnis und die Proklamation der Dialoge angeht, fürwahr kein Pappenstiel. Was Ulrich E. Hein als bewährter Regisseur da den jungen Leuten entlocken konnte, war schon zu bewundern. Ob denn die Aufgabe für die Spieler (Sprecherziehung) und die Zuhörer (Sprachgeschwindigkeit u.a.) nicht eine Nummer „zu stramm“ war, steht im Raum.



Das Stück spielt irgendwo in der Schweiz in einem privaten Nervensanatorium, wo die weltbekannte Psychiaterin Dr. h.c. Dr. med. Mathilde von Zahnd (Christine Bus/alternativ: Christine Reinsch) drei Kernphysiker, harmlose, liebenswerte Irre, behandelt: Ernst Heinrich Ernesti (Tobias Marrenbach/Oliver Pulm), der sich für Einstein hält, Herbert Georg Beutler (Alexander Noß), der sich mit Newton identifiziert, und Johann Wilhelm Möbius (Anna Kickartz), dem König Salomon aufsehenerregende Erfindungen diktiert. In der Villa geschehen merkwürdige Dinge, die auch die Polizei beschäftigen. Inspektor Voss (Viktoria Hof/Nathalie Pickartz) untersucht in kürzester Zeit drei Morde an Krankenschwestern.

Der parallele Bau der beiden Akte kommt darin zum Ausdruck, dass Dürrenmatt sie jeweils mit der Untersuchung des zuletzt erfolgten Mordes einleitet. Die überraschende Wendung geschieht erst in der Mitte des zweiten Aktes: Keiner der drei Patienten ist wirklich krank. Die Schwestern mussten sterben, weil sie Verdacht geschöpft hatten. Sie wurden das Opfer einer höheren Notwendigkeit. Möbius hatte mit einer genialen Dissertation die beiden größten Geheimdienste der Welt auf sich aufmerksam gemacht, die zwei Kernphysiker, Kilton alias Newton und Eisler alias Einstein, als Agenten in das Irrenhaus schickten, wo Möbius, dessen Handeln allein von der Verantwortlichkeit der Wissenschaft bestimmt ist, Zuflucht gesucht hat.



Denn Möbius, dem grössten Physiker der Welt, ist es gelungen, das System aller möglichen Erfindungen, die Weltformel, zu entdecken, aber er hat aus Gründen der Verantwortung den vorgetäuschten Wahnsinn als einzige Alternative zu einer glänzenden wissenschaftlichen Karriere gewählt. Er entscheidet sich für die Narrenkappe, denn das Irrenhaus garantiert ihm die Sicherheit, von Politikern nicht ausgenutzt zu werden.

Die beiden gleichfalls Wahnsinn simulierenden Agenten versuchen, jeder mit anderen ideologischen Gründen, die Weltformel für ihr Land zu erwerben. Möbius aber überzeugt seine beiden Kollegen, dass es keinen anderen Ausweg als die Flucht aus der Welt gibt: "Wir müssen unser Wissen zurücknehmen. Entweder bleiben wir im Irrenhaus oder die Welt wird eines."



Seiner Erkenntnis folgend, hat Möbius die Manuskripte längst verbrannt. Da erscheint Mathilde von Zahnd, die humpelnde Anstaltsleiterin, und erklärt die drei Physiker zu Gefangenen. Sie hat das Spiel durchschaut, die Manuskripte rechtzeitig kopieren lassen und mit der Auswertung des Systems aller möglichen Erfindungen in ihrem Weltfrust begonnen, denn auch ihr ist König Salomon erschienen, um durch sie die Weltherrschaft zu ergreifen.



[Friedrich Dürrenmatt wurde am 5. Januar 1921 in Konolfingen bei Bern geboren und starb am 14. Dezember 1990 in Neuenburg. Er verstand die Komödie "als die einzig mögliche dramatische Form, heute das Tragische auszusagen". Dürrenmatt verfasste neben vielen Theaterstücken auch zahlreiche Romane, Novellen und Erzählungen. Ein zentrales Thema seines Schaffens ist die Macht; Dürrenmatt war auch Maler: "Weltraumpsalm des Salomo" hat er gemalt zum Vortäuschgesang des (doch nicht irren) Möbius.]



Die Welt fällt in die Hände einer verrückten, humpelnden, alten Irrenärztin. Hinter den drei Kernphysikern aber schliessen sich die Anstaltsgitter für immer. Als Einstein, Newton und Salomon erscheint ihnen der selbstgewählte Wahnsinn als die einzig sinnvolle Existenzform in einer Welt, die dem eigenen Untergang entgegentaumelt; als Mördern bleibt ihnen keine andere Wahl als das Paradoxe einer vernünftigen Schizophrenie.

Eine verhängnisvolle Kette von Zufällen, des Zusammentreffens von geschäfts- und gewaltbereiten Individuen.

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