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Teil II: Ich kann, ich will, ich muss - Das Leben des Joachim Deckarm
(lo/15.1.2003-12:20) Von Björn Loos
Oberberg Er war zu seiner Zeit der vielleicht beste Handballer der Welt, von den Anhängern nicht umsonst "Goldarm" genannt, doch ein schwerer Unfall zerstörte die Karriere des Joachim Deckarm.
[Bilder: Mengedoht --- Wenn Jo Deckarm heute den VfL in der Eugen-Haas-Sporthalle besucht, wird er natürlich mit einem herzlichen Applaus begrüßt.]
Nach einiger Zeit im Koma wird Joachim Deckarm von Budapest in die Uniklinik Köln verlegt. Seine Eltern besuchen ihn täglich, doch es ist nicht ein Hauch der Besserung zu sehen. Die BILD-Zeitung schreibt im Juni 1979: "Das schreckliche Sterben des Joachim Deckarm." In dieser ausweglosen Situation wenden sich die Eltern an den Wunderheiler Josef Müller. Dieser behauptet, in fünfzig Tagen ist Joachim Deckarm wieder gesund und die Eltern klammern sich an diesen letzten Strohhalm. Durch Handauflegen will Müller Deckarm aus dem Koma aufwecken.
Und das Wunder geschieht: Nach endlosen 131 Tagen wacht er aus dem Koma auf. Die Eltern vertrauen nun natürlich blind den angeblichen Kräften Müllers. Zwei Jahre lang experimentiert er mit seinen Handauflege-Techniken. Doch Deckarm vegetiert nur vor sich hin. Er kann nichts. Noch nicht einmal selbständig atmen. Nach zwei Jahren Stagnation trennen sich Deckarms Eltern von Josef Müller und engagieren Werner Hürther, seinen ehemaligen Handballtrainer beim TV Malstatt, der sich von nun an um ihn kümmert. Doch wie soll man anfangen? Deckarm ist zu nichts in der Lage. Der inzwischen 28-jährige ist ein hundertprozentiger Pflegefall.
Werner Hürther wird zu seinem täglicher Begleiter. Zusammen mit den Ärzten um Professor Klümper stellt er ein spezielles Trainingsprogramm für Deckarm auf. Am Anfang stehen einfachste physiotherapeutische Übungen, um die Muskulatur bei dem einstigen Modellathleten (1,94 m und 85 kg) wieder aufzubauen. Doch nicht nur das wird trainiert: Elementare Dinge wie richtiges Atmen und das Sprechen muss Deckarm neu lernen. Sogar das richtige Halten des Essbestecks ist eine der ersten Trainingseinheiten. Nach und nach stellen sich erste, minimale Erfolge ein. Joachim Deckarm fängt langsam an, sich wieder zu artikulieren. Der Mann, der einmal einer der erfolgreichsten Handballer der Welt war, freut sich über jedes Wort, dass über seine Lippen geht.
[Auch in der neuen Spielstätte Kölnarena hat sich "Goldarm" schon ein Spiel "seines" VfL Gummersbach angesehen.]
Die Ärzte formulieren gemeinsam mit Hürther zusammen einen Grundsatz, der Deckarms Leben in Zukunft bestimmen wird: Ich kann ich will ich muss! Der ehrgeizige Deckarm will sich nicht mit dem bisher Erreichten, einem Leben im Rollstuhl, zufrieden geben. Werner Hürther ist sich sicher, dass sein Schützling weitere Fortschritte machen kann: Ich kenne Jo und seinen Willen und seine Kraft. Eine ehemalige Lehrerin aus Saarbrücken bringt ihm wieder Lesen und Schreiben bei und Hürther trainiert mit ihm auf dem Rad und im Wasser. Dort lernt Joachim Deckarm die Gehbewegungen wieder. Und tatsächlich: Joachim kann bald wieder ohne Krücken gehen. Eine Sensation. Der unglaubliche Kampf gegen seine Behinderung wird in ganz Deutschland bekannt. Die Menschen sind begeistert von einem Mann, den viele schon totgesagt hatten.
Aufstecken ist nicht meine Art, sagt Joachim Deckarm und mit jedem Tag geht er einen Schritt weiter in ein neues Leben. Der vormals hundertprozentige Pflegefall macht immer größere Fortschritte. Er hat sogar einen Computer, mit dem er sein Gedächtnis trainiert. Damit hat der ehemalige Mathematikstudent noch Probleme. Er setzt sich fast täglich neue Ziele, die er erreichen möchte: Neuer persönlicher Rekord im Gehen, 200 Meter ohne fremde Hilfe!
Jo ist kein Pflegefall mehr, sagt Werner Hürther, der mehr ist als Trainer und Betreuer. Er ist ein Freund. Einer, der Deckarm immer wieder motiviert und unterstützt. Sein Tod 1995 ist ein großer Schock für alle. Doch Hürther hat vorgesorgt. Mit Albert Hippchen und Ralf Peters führen zwei Freunde die Arbeit mit Deckarm nahtlos fort.
Die Anerkennung der Leistung Joachim Deckarms ist immens. Die Handballhalle in Saarbrücken wurde nach ihm benannt. Wem, außer Fritz Walter, ist zu Lebzeiten die Ehre zuteil geworden, dass eine Sportstätte seinen Namen trägt? Er ist zu einem Botschafter der Behinderten in ganz Deutschland geworden, hat sogar eine eigene Behindertenhilfe ins Leben gerufen.
1999 kommt es zu einem weiteren Höhepunkt in Joachim Deckarms Leben. Er wird zum Welthandballer des Jahrhunderts gewählt. Für seinen Trainer bei der WM 1978, Vlado Stenzel, nur logisch: Er ist der kompletteste Spieler aller Zeiten! Diese Auszeichnung ist das vorerst letzte Highlight eines ungewöhnlichen Lebens.
Nach einer großartigen sportlichen Karriere, die von einem Unglück jäh beendet wurde, hat Joachim Deckarm durch Ehrgeiz, Kampf und den Idealismus seiner Betreuer den Weg in ein neues, fast eigenständiges Leben gefunden. Er sagt: Am Schönsten ist, dass ich bei meiner Mutter Ruth zu Hause leben kann. Diese Bescheidenheit und sein Wille machen diesen Mann zu etwas Einzigartigem unter allen Athleten. Denn er musste länger, härter und öfter als alle Anderen kämpfen, um sein Leben wieder zu gewinnen.
