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Fai(h)r mal mit - Landrat schwang sich auf den Führerbock

om; 9. Sep 2001, 04:58 Uhr
Oberberg Aktuell
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Fai(h)r mal mit - Landrat schwang sich auf den Führerbock

om; 9. Sep 2001, 04:58 Uhr
(om/8.9.2001-5:30) Von Oliver Mengedoht
Oberberg - Wie dringend die Pilotaktion des Landes und des Kreises ist, zeigen wohl auch die beiden schweren Lkw-Unfälle von vorgestern, bei denen mindestens zwei Menschen ums Leben kamen.
[Bilder: Oliver Mengedoht --- Landrat Kausemann bestieg "den Bock" gerne - und kam mit erstaunlichen, neuen Erkenntnissen wieder.]



Nüchtern mutete noch die Einladung der Kreisverwaltung an, an der Pressekonferenz zum Thema "Mehr Sicherheit im Lkw-Verkehr" teilzunehmen. Umso interessanter - und wichtiger - erschien das Thema jedoch "vor Ort". Die bundesweit angelegte - aber als Pilotprojekt in NRW gestartete - Aktion "Fai(h)r mal mit - Pkw-Fahrer sollen Lkw-Fahrer besser einschätzen können" sollte vorgestellt werden, vor einer Woche wurde sie von RP Roters für den Bereich der Autobahnpolizei Köln eröffnet. Das Neue: Jeder Bürger kann auf Wunsch einmal mit einem "Brummi" mitfahren, um mal selbst zu vergleichen, welche Unterschiede zum Pkw es gibt.



2.742 schwere Verkehrsunfälle ereigneten sich allein im Oberbergischen Kreis in diesem Jahr, berichtete Polizeisprecher Joachim Höller, an 283 davon waren Lastwagen beteiligt. "Dabei starben zwei Menschen und 110 zogen sich Verletzungen zu", lautete seine traurige Bilanz. Durch die Aktion, so Höller und Landrat Hans-Leo Kausemann weiter, solle das Verständnis zwischen Auto- und Lastwagenfahrern verbessert und dadurch die Sicherheit auf den Straßen erhöht werden.



Zum Glück schleuderte Lastzug beim Bremsen nicht



Fast begeistert kam Kausemann von einer Demofahrt - die auch jeder Bürger mitmachen kann - zurück: "Ich habe völlig neue Erkenntnisse!" Mit dem 40-Tonner des Waldbröler Spediteurs Peter Peisker war der Landrat in der Stadt sowie auf Landstraße und Autobahn mit 420 PS unterwegs, um sich die Unterschiede zum Führen eines "normalen" Autos genau vorführen zu lassen.



"Hoch oben auf dem Bock habe ich einige Besonderheiten erleben können: In Dieringhausen zum Beispiel rannte kurz vor dem Bahnhof völlig unverhofft plötzlich ein Autofahrer, die Türe zuschlagend, circa zehn Meter vor uns noch über die Fahrbahn - zum Glück kam der Lastzug bei der nötigen Vollbremsung nicht ins Schleudern." Die Lektion des Landrats: Autofahrer und Fußgänger müssten sich darauf einstellen, dass man im Lastwagen nicht immer ganz so schnell reagieren könne.

[Mehr Rücksicht aufeinander fordern Initiative und die Lastwagenfahrer.]



Eine weitere Situation, in der der Landrat speziell die Probleme der Lkw-Fahrer erlebte, war das Einfädeln auf der Autobahn, sei es beim Einfahren oder beim Überholen. "Der Kurven-Radius ist ein völlig anderer", verglich Kausemann mit dem normalen Pkw, die Möglichkeit, einscheren zu lassen, sei viel wichtiger. Den größeren toten Winkel - zum Beispiel gegenüber Radfahrern, die sich an der Ampel rechts neben dem Führerhaus "einsortieren" -, nannte Spediteur Peisker als weiteres Problem von Lkw-Fahrern.



Es habe aber auch eine "nette Situation" gegeben, als ein Autofahrer dem Lkw bereitwillig geblinkt und ihn vorgelassen habe, obwohl dieser durch sein Abbiegen zwei Fahrspuren blockierte. Und Landrat Kausemann hatte bemerkt, dass auch "einfache" Bäume ein Hindernis für "Brummis" sein können: "Es gibt Straßen, da hängen die Zweige in die Fahrbahn hinein, da müssen wir Lastwagen teils auf die Gegenspur ausweichen, sonst zerstören wir unsere Hänger", ergänzte Peisker.



"Wir müssen voll in die Eisen - so entstehen Staus"



Wenn bei der Vollbremsung für den Fußgänger ein Auto aufgefahren sei, könne es durchaus sein, dass der "Trucker" diesen Auffahrunfall gar nicht merke. Auch Landrat Kausemann war aufgefallen, dass bei den "Vibrationen und Schaukeleien über Spurrillen, die man als Pkw-Fahrer gar nicht bemerkt, vieles unbemerkt bleibt".



Im Bröltal, so Peisker, dürften dicke Lastwagen nur 60 km/h fahren, was viele Autofahrer besonders im Berufsverkehr zu gefährlichen Überholmanöver verleite. "Die überholen kurz vor einer Kurve, müssen dann scharf bremsen und darum müssen auch wir voll in die Eisen - so entstehen Staus!"



Seine Forderung an die Politik: Den "Brummis" auf Land- und Bundesstraßen mindestens 70 oder 75 "Sachen" erlauben, schließlich hätte sich in den letzten Jahren viel in Sachen Sicherheit getan, "wir haben Scheibenbremsen und ABS bekommen". Viele Problem würden nur durch die heutige Hektik verursacht.



"Bei 80 oder 85 kann ich auf's Gas treten soviel ich will, durch den Geschwindigkeitsregler wird das abgeregelt"



Übrigens: Dass moderne Lastwagen nicht mehr zu schnell fahren könnten, habe der Landrat selbst bemerken können: "Bei 80 oder 85 kann ich auf's Gas treten, soviel ich will, da passiert nix mehr, durch den Geschwindigkeitsregler wird das abgeregelt", erklärte der Herr über ein 18,75 Meter langes Fahrzeug mit sage und schreibe 16 Gängen.

[Polizeisprecher Höller (v.l.n.r.), Landrat Kausemann und Spediteur Peisker präsentieren die Pilotaktion.]



Idee aufgegriffen - Mitfahrgelegenheiten für Autofahrer - NRW-Aktion soll bundesweit starten



Die Autobahnpolizei, so Polizeisprecher Höller, habe schon '99 die Ordnungspartnerschaft "Sicherheit im Lkw-Verkehr" initiiert, Seminare für "Trucker" angeboten und auch den "Fernfahrer-Stammtisch" (der zuletzt an der Aggertal-Raststätte vorgestern stattfand) ins Leben gerufen. Im Rahmen dieses Stammtischs sei die Idee eines Fernfahrers aufgegriffen worden: "Pkw-Fahrer sollten uns mal begleiten und unsere Fahrsituation kennenlernen."



RP Roters habe das aufgegriffen und die Autobahnpolizei beauftragt, eine entsprechende Aktion vorzubereiten, um das gegenseitige Verständnis von Lkw- und Pkw-Fahrern zu verbessern. Hier kam der Verband für Güterkraftverkehr und Logistik Nordrhein (VGL) ins Spiel, mit dem "Fa(i)hr mal mit" entwickelt wurde.



"Jeder Tote ist einer zuviel"



Der VGL koordiniert die Kampagne, für die sich im Oberbergischen bereits neun Speditionen angemeldet haben, die Interessierte auf "Probe"- oder besser Demofahrten mitnehmen. Die Speditionen sind gut im Kreis verteilt, je zwei liegen in Waldbröl und Reichshof sowie je eine in Gummersbach, Wipperfürth, Lindlar, Radevormwald und Nümbrecht. Der Verband hat unter Tel.: 0211/73 47-814 ein Info-Telefon geschaltet, bei dem sich Bürger kostenlos für einen Termin anmelden können, bei dem die speziellen Probleme von Lkw-Fahrern einmal "live" und aus "der ersten Reihe" begutachtet werden können; mitunter kann der Fahrgast sogar eine spezielle Wunschroute mit Fahrer und Spediteur abstimmen.



Bei Erfolg soll diese NRW-Aktion auf ganz Deutschland ausgeweitet werden, auch der Fahrschulverband unterstützt die Aktion. "Jeder Tote ist einer zuviel", erklärte Landrat Kausemann und hofft, "dass durch das gegenseitige Verständnis zwischen Lkw-Fahrer und anderen Verkehrsteilnehmern ein weiterer Schritt zur Vermeidung von Unfällen getan wird".



Keine Knautschzone - längere Bremswege



"Großes Leid" sei bei den Unfällen mit Lastwagen im vergangenen Jahr entstanden, bekannte Höller, wenngleich speziell in Oberberg eher die jungen Fahranfänger das größte Problem seien. "Aber wenn man mal oben auf dem Bock sitzt und erkennt, es gibt keine Knautschzone, die Bremswege sind länger", dann sei das schon etwas anderes. Seit dem Start der Aktion vor nur einer Woche seien bereits 70 verbindliche Anmeldungen zu Mitfahrten registriert worden, und es habe viele lobende und verständnisvolle Reaktionen gegeben.



"An Unfallstellen so früh wie möglich warnen", gab Höller einen Tipp - unabhängig von der Fahrzeugart. Zu hohe Geschwindigkeit besonders im Nebel, mangelhafte beziehungsweise schwache Rücklichter gerade bei ausländischen Lastern und Übermüdung seien bei den Lkw-Fahrern häufige Gründe für Unfälle, gab er zu.



Bei Autofahrern spiele oft eine Rolle, dass diese Masse und Bremsweg von Lastwagen nicht recht einschätzen könnten, dass Anhänger bis zu einem Meter ausscheren können. Die bekannten "Lichtorgeln" mit leuchtenden Tannenbäumen und Ähnlichem seien übrigens verboten, warnte Höller auch die "Brummi"-Fahrer.



"Mit mehr Miteinander geht alles besser"



"Es ist wie überall im Leben: Mit mehr Miteinander geht alles besser", lautete des Landrats Fazit, dem sich auch Spediteur Peisker anschloss. "Vielleicht sollte sich auch jeder mal überlegen, dass wir - gerade hier im ländlichen Raum - die Güter transportieren, die jeder Otto-Normalverbraucher benötigt - wir fahren nicht aus Jux und Dollerei."



Ein bisschen Rücksicht beim Einfädeln, damit der Lkw nicht gerade an Steigungen auf 20 km/h oder weniger herunterschalten müsse und beim Überholen entsprechend "urlahm" werde und so Staus verursache, dann ginge schon manches besser, erklärte der erfahrene "Trucker".



Zwei Tote am Tag der Pressekonferenz



Wie wichtig das Thema "Lkw-Sicherheit" ist, zeigte sich bedauernswerterweise schon allein an den Unfällen am Tag der Pressekonferenz: Auf der A 61 prallte ein Lkw gegen einen Brückenpfeiler, für dessen Fahrer jede Hilfe zu spät kam - und auf der A 4 fuhr ein Lastwagen vor dem Kerpener Kreuz auf ein Stauende und schob sechs Autos sowie einen Laster ineinander; eine getötete Beifahrerin und drei Schwerverletzte waren die Folge; der Lkw-Fahrer blieb unverletzt. Bei beiden Unfällen waren zudem Staus von bis zu 16 Kilometern Länge und die Sperrung ganzer Autobahnkreuze die Folge...

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