BLAULICHT

Trotz schwerster Kopfverletzungen und Blutlache – Richter bleibt nur Freispruch

pn; 21.09.2021, 17:15 Uhr
BLAULICHT

Trotz schwerster Kopfverletzungen und Blutlache – Richter bleibt nur Freispruch

pn; 21.09.2021, 17:15 Uhr
Waldbröl – 60-jähriges Opfer verhindert mit schwammigen Aussagen eine mögliche Verurteilung seines 37-jährigen Nachbarn.

Von Peter Notbohm

 

Vor einer schwierigen Frage stand am gestrigen Montag das Waldbröler Schöffengericht. Wie beurteilt man einen Fall, in dem es zwar ein Opfer mit schwersten Verletzungen gibt, in dem es auch zwei Tatverdächtige gibt, von denen man einem aber nichts nachweisen kann – auch weil das Opfer wenig hilfreich bei der Aufklärung der Fakten ist? Richter Carsten Becker und seine beiden Schöffinnen waren nach über vier Stunden Verhandlungsdauer jedenfalls nur bedingt schlauer, was sich am 17. Januar in einer Waldbröler Gastarbeiterunterkunft abgespielt hat.

 

Fest stand nur, dass der 60-jährige Piotr K. (Anm.d.Red.: Alle Namen geändert) damals mit schwersten Gesichtsverletzungen zunächst ins Waldbröler Krankenhaus und anschließend in die Bonner Klinik eingeliefert worden war. „Ich wurde nicht geschlagen, ich wurde massakriert“, ließ der Mann über die polnische Übersetzerin ausrichten. Von mindestens zehn einzelnen Gewalteinwirkungen auf den Kopf – vermutlich Tritte - sprach ein anwesender Rechtsmediziner.

 

Es sei ein Wunder, dass der Mann keine Gehirnerschütterung davongetragen habe. Neben multiplen Gesichtsfrakturen an Kiefer, Augenhöhlen und Nase, zog sich der 60-Jährige auch einen Riss an der Schädelbasis zu. Sein rechtes Ohr platze auf, zudem handelte er sich Hämatome am rechten Arm, Rücken und Gesäß durch seine Abwehrbewegungen ein. Zwei Wochen wurde Piotr K. stationär in Bonn behandelt, über drei Monate war er krank geschrieben. Noch heute habe er Kunststoff unter der Haut eingesetzt und habe Probleme mit dem Schlaf, berichtete das Opfer.

 

Wegen der Taten angeklagt war Igor J., ein 37-jähriger polnischer Maschinenbediener, der seit sieben Jahren in Deutschland lebt und wie das Opfer bei der Waldbröler Firma Caspari arbeitet, aber ebenfalls kaum ein Wort deutsch sprach. Das Verfahren gegen den Mitangeklagten Andreas M. steht noch aus – er sitzt derzeit eine Haftstrafe in Polen ab. Nach Ermittlungen der Staatsanwaltschaft kam es am 17. Januar, sonntagnachts um 23 Uhr, zu einem Streit an der Wohnungstür von Igor J. Ob es dabei um zu laute Musik ging, oder dass sich Piotr K. in seiner Ehre gekränkt gefühlt hatte, weil ihm der 23 Jahre jüngere Arbeitskollege eine Weisung eines Vorarbeiters zu einem Corona-Test weitergegeben hatte, blieb vor Gericht allerdings eine von vielen unbeantworteten Fragen.

 

Igor J. gab zu, den Mann im betrunkenen Zustand – ein später genommener Blutwert ergab 1,3 Promille – nach einem kurzen Handgemenge einmal in den Bauch getreten zu haben, um ihn aus der Wohnungstür zu befördern, mehr habe er aber nicht gemacht. Seine Vernehmung geriet dabei aufgrund der Sprachbarriere enorm mühselig. Indirekt belastete er Andreas M., dieser habe wenige Minuten später eine weitere Konfrontation mit dem Nachbarn gehabt. Er gab zudem an, sich Sorgen um Piotr K. gemacht zu haben. Sogar seinen Mitbewohner Jonas L. habe er deshalb aufgeweckt, damit dieser nach dem Opfer schaue - er selbst habe sich dafür zu betrunken gefühlt.

 

Warum niemand trotz einer riesigen Blutlache auf dem Flur und blutverschmierten Wänden Rettungsdienst oder Polizei rief? Auch diese Frage konnte oder wollte keiner der beiden zufriedenstellend beantworten. Jonas L. erkundigte sich zwar bei Piotr K., ob alles in Ordnung sei, nachdem dieser das bejaht habe, hatte er allerdings nicht besseres zu tun, als zunächst einmal das Blut aus dem Flur zu wischen. „Das hätte ja sonst niemand gemacht“, meinte er lapidar.

 

Das Opfer selbst berichtete nur von zwei Schlägen auf Nase und Ohr, an mehr könne er sich nicht mehr erinnern. Auf Nachfragen des Gerichts und der Staatsanwaltschaft, ob er von einem der beiden potentiellen Täter bedroht werde, reagierte Piotr. K. nur ausweichend. Dass ihm spontan doch immer wieder Details einfielen, erhärtete diesen Verdacht zumindest. Auch von seiner polizeilichen Aussage wich er fast vollständig ab: Damals hatte er Andreas M. noch stark belastet, vor Gericht erwähnte er den abwesenden Mann mit keinem Wort. Laut der Dolmetscherin war es aber ohnehin schwer, seine Aussagen sinnvoll zu übersetzen, da der Mann immer wieder seine Sätze abbrach und keine Verben verwendete.

 

Mit den vermeintlichen Tätern wolle er nichts mehr zu tun haben, auch Schmerzensgeld verlange er nicht. Eine private Lebensversicherung in Polen decke seinen Schaden ab, berichtete er. Einige Minuten später ließ er aber zumindest einmal durchblicken, dass er im Februar durchaus bedroht worden sei: „Sie sagten zu mir, du bist durch, du hast die Polizei gerufen.“

 

Zu wenig für die Staatsanwältin. „Das Einzige, was feststeht, ist, dass es schwerste Verletzungen beim Opfer gab“, meinte sie zu Beginn ihres Plädoyers. Den Aussagen des Angeklagten schenke sie zwar wenig Glauben, der Geschädigte habe aber auch keine vernünftige Aussage gemacht. „Ich weiß einfach nicht, was genau passiert ist“, meinte sie und beantragte wegen Restzweifeln einen Freispruch für Igor J. Zu demselben Urteil kam auch das Schöffengericht. „Wir haben verschiedenste Versionen gehört“, sagte Carsten Becker in seiner Begründung. Für eine Verurteilung müsse das Gericht aber stichhaltige Beweise haben und dafür fehle es vor allem an einer vernünftigen Aussage des Opfers. Igor J. habe zwar einen Tritt eingeräumt, daraus seien aber keine Verletzungsfolgen abzuleiten, „man kann ihm nur moralisch vorwerfen, dass er später trotz des vielen Blutes auf dem Flur keinen Arzt gerufen hat.“

 

Abgeschlossen ist der Fall damit aber noch nicht: Auf Andreas M. wartet noch ein Verfahren, sobald er aus dem polnischen Gefängnis entlassen wurde.

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