BLAULICHT

Mehrjährige Haftstrafe nach Messerstecherei in Flüchtlingsunterkunft

pn; 30.06.2022, 16:50 Uhr
BLAULICHT

Mehrjährige Haftstrafe nach Messerstecherei in Flüchtlingsunterkunft

pn; 30.06.2022, 16:50 Uhr
Hückeswagen/Wipperfürth - 29-Jähriger war war im vergangenen Jahr lebensgefährlich verletzt worden - 25-Jähriger muss hinter Gitter.

Von Peter Notbohm

 

Ein beinahe tödlich verlaufener Streit in einer Hückeswagener Flüchtlingsunterkunft beschäftigte am Donnerstag das Amtsgericht in Wipperfürth. Angeklagt war Mehmet S. (Anm.d.Red.: Alle Namen geändert), ein aus der Türkei stammender 25-jähriger Kurde. Die Staatsanwaltschaft warf ihm gefährliche Körperverletzung vor. Konkret soll er einen Mitbewohner der Unterkunft am 15. September des vergangenen Jahres mit einem Klappmesser schwer verletzt haben. Anwar, K., das 29-jährige Opfer, erlitt damals insgesamt vier Stichwunden, zwei davon in den Bauch, eine in den Oberarm sowie eine in den Oberschenkel.

 

Besonders die Verletzung am Arm erwies sich als lebensbedrohlich, da neben dem Oberarmmuskel auch eine Vene durchtrennt wurde. Anwar K. hinterließ auf seiner Flucht eine blutige Spur über zwei Stockwerke und brach schließlich in einem Zimmer eines weiteren Mitbewohners zusammen – Rettungskräfte sowie eine anschließende Notoperation retteten ihm das Leben. Die Hintergründe der Tat aufzuklären, fiel dem Schöffengericht um den Vorsitzenden Richter Stefan Krieger aufgrund der Sprachbarriere alles andere als leicht: Obwohl das Opfer mittlerweile solide deutsch sprach, benötigten alle Verfahrensbeteiligten Dolmetscher.

 

Mehmet S., der, obwohl er bereits seit über vier Jahren in der Bundesrepublik lebt, nahezu kein deutsch spricht, behauptete zunächst in Notwehr gehandelt zu haben. Er habe damals das Fahrrad von Anwar K. ausgeliehen, um damit zu einem Supermarkt zu fahren. Weil er Cannabis geraucht und ein 0,3l-Glas Whiskey getrunken habe, habe er dann das Fahrrad dort vergessen und sei stattdessen zu Fuß die vier Kilometer lange Strecke zurückgelaufen. Nachdem er dies gebeichtet habe, hätte ihn Anwar K. kurze Zeit später mit dem Messer in seinem Zimmer aufgesucht und ihn attackiert.

 

Bei einem kurzen Gerangel sei die Waffe auf den Boden gefallen, er habe sie sich geschnappt und dann aus Notwehr mehrfach zugestoßen, so seine Version. „Ich sah mich gezwungen, mich zu verteidigen“, übersetzte sein Dolmetscher. Anschließend habe er sich in seinem Raum eingeschlossen und auf die Polizei gewartet. Dass er auf Detailfragen fast schon manisch immer wieder nur dieselbe Geschichte wiederholte, nährte bereits erste Zweifel an seiner Geschichte. Wesentlich mehr Details zum Tattag konnte Anwar K. beisteuern. Mehmet S. habe ihn wegen einer Frage zu sich in die Wohnung eingeladen. In dem Moment, als er sich dort setzen wollte, habe er einen ersten kleinen Stich am Oberbauch gespürt, zunächst aber sogar noch gedacht, dieser sei scherzhaft mit einem Finger geschehen – auch weil er kein Blut sah.

 

Erst als der Kurde ein zweites Mal zustach, habe er den Ernst der Lage begriffen und sich angefangen zu wehren. Bei den Abwehrbewegungen kam es zu der lebensgefährlichen Verletzung am Oberarm. Dem 29-Jährigen gelang die Flucht, wobei Mehmet S. ihn auch nicht weiter verfolgte. „Ich will vor allem wissen, warum er das gemacht hat. Ich war der Einzige in der Unterkunft, der mit ihm gesprochen hat und keinen Streit hatte“, so das Opfer, das noch heute unter den Folgen leidet. Wegen der großen Narbe am Arm (zehn Zentimeter) könne er nicht in T-Shirts herumlaufen, habe dazu massive psychische Probleme: Er könne niemandem mehr vertrauen und leide unter permanenten Schlafproblemen.

 

Als eventueller Grund für die Tat kristallisierte sich nach der Vernehmung eines weiteren Zeugen ein Ereignis wenige Tage zuvor heraus. Anwar K. hatte dem 25-Jährigen weder zehn Euro noch sein Fahrrad geben wollen. „Weil ich wusste, dass er das Geld nur für Cannabis ausgeben wird.“ Ein psychiatrischer Gutachter attestierte dem Angeklagten eine Mentalisierungsstörung. Bei dieser Störung aus dem Autismusspektrum machen sich Betroffene keine Gedanken über die Reaktionen anderer Menschen auf ihr Handeln. Es mangelt ihnen dabei an sozialer Intelligenz – ein Grund für eine Schuldunfähigkeit war dies aus Sicht des Gutachters aber nicht.

 

Das Schöffengericht verurteilte Mehmet S., der sich seit der Tat in Untersuchungshaft in Wuppertal befindet und auch das Verfahren in Handschellen verfolgen musste, daher anschließend zu einer Haftstrafe von drei Jahren und sechs Monaten. Damit blieb das Gericht unter der Forderung der Staatsanwaltschaft, die vier Jahre Haft beantragt hatte. Die Verteidigung hatte auf Freispruch wegen einer Notwehrlage plädiert.

WERBUNG