BLAULICHT

Fataler Irrtum: „Diesen Tag werden wir nie vergessen“

pn; 28.01.2022, 21:00 Uhr
Archivfoto: Leif Schmittgen ---- Bei dem Bahnunfall erlitt ein Kleinkind lebensgefährliche Verletzungen.
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Fataler Irrtum: „Diesen Tag werden wir nie vergessen“

pn; 28.01.2022, 21:00 Uhr
Oberberg – Gericht stellt Verfahren wegen des Bahnunfalls in Engelskirchen ein - Zweijähriger war lebensgefährlich verletzt worden – Die beiden Angeklagten sind bis heute traumatisiert.

Von Peter Notbohm

 

Den 7. August 2019 werden Thomas G. und Boris T. (Anm.d.Red.: Alle Namen geändert) niemals vergessen. Es ist der Tag, der sich unweigerlich in den Köpfen der beiden mehrfachen Familienväter eingebrannt hat und der sie bis heute traumatisiert. Ein harmloser Angelausflug endete in einem tragischen Unfall, der den damals zweijährigen Sohn von Thomas G. beinahe das Leben gekostet hätte. Das Kind war wenige Tage vor seinem dritten Geburtstag von einem Zug der RB 25 erfasst worden und hatte sich schwerste Kopfverletzungen zugezogen. Der Junge lag über eine Woche im künstlichen Koma und musste mehrfach operiert werden.

 

Am heutigen Freitag beschäftigte sich nun die Justiz mit dem tragischen Bahnunfall. Die beiden Väter aus Morsbach und Wiehl (39 und 42 Jahre alt) mussten sich wegen gefährlichen Eingriffs in den Schienenverkehr und fahrlässiger Körperverletzung vor dem Amtsgericht Gummersbach verantworten. Für beide Familien ein schwerer Tag: Die beiden Männer wurden von ihren Frauen begleitet, die im Zuschauerraum saßen. Alle Beteiligten kämpften bei den Schilderungen des Unfallhergangs mehrfach mit den Tränen.

 

An jenem verhängnisvollen Mittwoch erholte sich Boris T. gerade von einer Herzmuskelentzündung. Gemeinsam plante man, mit den beiden jüngsten Söhnen einen Angelausflug an den Rhein zu unternehmen. Weil der zweijährige Stefan G. allerdings bis in den späten Vormittag schlief, wurde der Entschluss gefasst, stattdessen nur an die Agger bei Engelskirchen zu fahren. Hier nahm das Unheil seinen Lauf. Um an den Angelplatz zu gelangen, parkten beide Männer zunächst mit ihren Autos auf Höhe der Firma H&K Müller Kunststoffspritzgusswerk am Straßenrand.

 

Der Plan war, über einen kleinen Weg neben den Gleisen zu der Stelle an der Agger zu gehen. Den vermeintlichen Pfad kannte Boris T. nach eigener Aussage von früheren Ausflügen. Doch dieser Weg existierte nicht mehr, sondern war zugewuchert – laut Angaben der Polizei hatte es ihn nie offiziell gegeben. In diesem Moment passierte die RB 25 in Richtung Gummersbach die Strecke und löste damit bei beiden Vätern einen „fatalen Irrtum“ aus, wie die Männer aussagten.

 

„Der vorbeifahrende Zug hat uns eine falsche Sicherheit gegeben, dass in den nächsten 30 Minuten kein Zug mehr kommt“, erzählte Boris T. und betonte, dass man nicht blindlings auf die Bahnstrecke gelaufen sei. Die Gruppe wollte das kurze Stück über die Gleise zurücklegen. Dabei habe man die Kinder neben der Strecke auf dem Grünstreifen laufen lassen, die Erwachsenen liefen bepackt mit den Anglerutensilien auf dem Gleisbett. Sein Sohn habe noch stolz unbedingt seinen Kindercampingstuhl tragen wollen, erinnerte sich Thomas G.

 

Zu diesem Zeitpunkt hatte die Regionalbahn in Fahrtrichtung Köln bereits den Bahnhof in Engelskirchen verlassen. Zwei Minuten später hatte der Zug die in diesem Teilabschnitt erlaubte Geschwindigkeit von 80 km/h erreicht. In der lang gezogenen Linkskurve sah der Lokführer die Gruppe aufgrund der eingeschränkten Sicht erst spät und versuchte noch eine Vollbremsung einzuleiten. Laut einem Gutachten der Bahn kam der Zug nach 16 Sekunden und einer Wegstrecke von 165 Metern zum Stehen.

 

Nachdem der Sohn von Boris T. die herannahende Bahn als Erster wahrgenommen hatte, schafften es alle noch von den Gleisen zu springen. „Mein Sohn hat sich aber umgedreht. Vielleicht aus Neugier, ich weiß es nicht“, erzählte Thomas G. mit brüchiger Stimme. Ob der Junge vom letzten Waggon des Zuges oder von den durch die Vibrationen der Notbremsungen aufgewirbelten Steinen getroffen wurde, konnte er nicht sagen. Der Zweijährige erlitt lebensgefährliche Kopfverletzungen. Sein Vater rannte mit ihm sofort zurück in Richtung der L 136 und wurde von einem Autofahrer ins Krankenhaus nach Engelskirchen gefahren.

 

Aufgrund seines kritischen Zustandes wurde das Kind unmittelbar in die Uniklinik nach Köln-Merheim geflogen und notoperiert. Hier lag der Junge zwei Wochen auf der Intensivstation, eine davon im künstlichen Koma. Wegen der offenen Schädeldecke musste er mehrere Monate einen Helm tragen, ehe ihm eine künstliche Schädeldecke eingesetzt wurde. Noch heute leidet er an einer Konzentrationsschwäche sowie einer gestörten Feinmotorik in der rechten Hand und muss jede Woche zu Physio-, Ergo- und Logotherapie. Ein ärztliches Gutachten der Asklepios Kinderfachklinik in St.Augustin attestiert ihm dennoch einen deutlich verbesserten Gesundheitszustand sowie eine altersgerechte Entwicklung und empfahl eine Einschulung für diesen Sommer.

 

An den Unfall selbst habe sein Sohn glücklicherweise keine Erinnerungen, sagte der Morsbacher, der von der härtesten und schwersten Zeit seines Lebens sprach: „Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht an den Unfall erinnert werde.“ Für die Pflege seines Sohnes ließ er sich beurlauben. Auch Boris T. und sein Junge waren nach dem Unglück traumatisiert. Sein Sohn habe immer wieder Bilder von fliegenden Steinen und Funken gemalt, noch heute schrecke er bei lauten Geräuschen auf. Er selbst musste seinen Job wechseln: Bei Maschinen mit rotierenden Bewegungen bekomme er Panikattacken. „Wegen meines blöden Fehlers wurde sein Sohn schwer verletzt und wir haben alle ein Trauma“, gab sich der Wiehler unter Tränen die Schuld an dem Geschehen.

 

Da beide Männer psychisch noch heute unter dem Erlebten leiden, brachten ihre Verteidiger eine Einstellung des Verfahrens ins Spiel. „Wem soll eine Bestrafung nützen“, fragte einer der Rechtsanwälte. „Wir haben hier zwei Familienväter, die beide nicht vorbestraft sind und die eine Dummheit begangen haben, über die sie nicht nachgedacht haben. Der Anblick seines Sohnes wird meinen Mandaten jeden Tag bis zu seinem letzten Atemzug an die Ereignisse erinnern.“

 

Eine Argumentation, der auch die Staatsanwältin offen gegenüberstand. Sie warf allerdings ein, dass auch der Lokführer nach dem Unglück psychologisch behandelt werden musste und die 80 Passagiere im Zug Glück gehabt hätten, ohne Verletzungen davongekommen zu sein. Deshalb knüpfte sie eine Einstellung des Verfahrens an Auflagen. Nach kurzer Beratung stimmten alle Beteiligten zu. Richter Ulrich Neef stellte das Verfahren vorläufig ein, unter der Bedingung, dass beide Angeklagten jeweils 1.000 Euro an das Kinderhospiz in Olpe zahlen.

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