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„Was ist der Sozialstaat wert?“

fj; 8. Apr 2016, 15:40 Uhr
Bilder: Fenja Jansen --- (v. li.) Diakoniepfarrer Thomas Ruffler, AWO Rhein-Oberberg-Geschäftsführerin Martina Gilles, Caritas Oberberg- Geschäftsführer Peter Rothausen, Gastredner Prof. Dr. Norbert Wohlfahrt, Rolf Braun, Kreisgeschäftsführer DRK, und Gerhard Marzinkowski, Geschäftsführer des Paritätischen.
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„Was ist der Sozialstaat wert?“

fj; 8. Apr 2016, 15:40 Uhr
Oberberg - Beim Frühjahrsempfang der Arbeitsgemeinschaft Freie Wohlfahrtsverbände referierte Professor Norbert Wohlfahrt über Entwicklung und aktuelle Situation des Sozialstaates.
Um ein Thema, „an dem man verzweifeln kann“, ging es heute laut Gastredner Prof. Dr. Norbert Wohlfahrt von der Evangelischen Fachhochschule Rheinland-Westfalen-Lippe auf dem heutigen Frühjahrsempfang der Arbeitsgemeinschaft (AG) Freie Wohlfahrt. Dazu hatten die Arbeiterwohlfahrt (AWO), Caritas, Deutsches Rotes Kreuz (DRK), Diakonie des Kirchenkreises An der Agger und der Paritätische Wohlfahrtsverband Oberberg ins Evangelische Gemeindehaus in Gummersbach eingeladen. Und das Thema war bewusst gewählt, wie Diakoniepfarrer Thomas Ruffler, der derzeit den Vorsitz der AG innehat, den zahlreichen Vertretern aus Politik, des Kreises, der Kommunen und der sozialen Einrichtungen im Oberbergischen erklärte. Denn mit AWO und DRK sind zwei der Gastgeber in finanzielle Schieflage geraten und müssen Kindertagesstätten abgeben, wenn die staatliche Refinanzierung nicht an die tatsächlichen Kosten angepasst wird.


[Diakoniepfarrer Thomas Ruffler konnte zahlreiche Gäste begrüßen, darunter die Bundestags- abgeordneten Michaela Engelmeier (SPD) und Klaus-Peter Flosbach (CDU).]  
  
An der Frage „Was ist uns der Sozialstaat wert?“ könne man verzweifeln, so Wohlfahrt, weil es keine einheitliche Einschätzung des Sozialstaates gebe. Mit einem Rückblick auf die Entwicklung des Sozialstaates entwickelte er eigene Thesen, die dem Publikum als Grundlage zur späteren Diskussion dienten. Als „Produkt des Pragmatismus“ sei der Sozialstaat Gegenstand immerwährender Reformen, seitdem er im 19. Jahrhundert geboren wurde. Bis 1974, so der Gastredner, wurden Sozialausgaben noch positiv gesehen, weil sie in der Gesellschaft positive Veränderungen bewirken. Kritische Stimmen sehen den Sozialstaat heute als Gefahr, da zahlreiche Kommunen vor allem wegen Ausgaben im sozialen Bereich hoch verschuldet seien.



Die Rettung der Banken während der Finanzkrise, erklärte Wohlfahrt, kostete auch Deutschland so viel Geld, das Sparen heute das oberste Gebot des Handels ist. Laut Bertelsmann Stiftung sei das Verbot der strukturellen Verschuldung aber gesetzlich auf die Haushalte von Bund und Ländern begrenzt, nicht auf die der Kommunen. Dies schaffe einen Anreiz, auch Aufgaben und Probleme im sozialen Bereich einfach an die Kommunen durchzureichen. „Dadurch steigen die Sozialausgaben der Kommunen seit Jahren an – und sie werden weiter ansteigen“, so Wohlfahrt. Aufgrund der vielerorts eh schon brisanten Haushaltslage seien Kommunen dazu gezwungen, Privatisierungen im sozialen Bereich vorzunehmen und beispielsweise die Trägerschaft von Kliniken oder Kindergärten an private Träger abzugeben.



[Prof. Dr. Norbert Wohlfahrt.] 

Dies jedoch habe dramatische Auswirkungen für die Wohlfahrtsverbände, die plötzlich in der Konkurrenz zu privaten Anbietern stehen. So seien sie dazu gezwungen, ihr Angebot auf die lukrativen Teilbereiche zu konzentrieren, das Ehrenamt zu funktionalisieren und Projekte mit kürzeren Laufzeiten und knapper kalkulierten Ressourcen anzubieten, um  - ganz im Modell eines Unternehmens – möglichst effizient zu arbeiten. „Könnte ich eine Lösung für diese Problematik anbieten, wäre ich ein gut verdienender Berater“, erklärte Wohlfahrt. Sein Fazit lautete: Der Dialog über die Zukunft des Sozialstaates werde genauso benötigt, wie die Befreiung des Sozialstaates von ökonomischen Faktoren.

Mit den Worten „Ich bin  entsetzt“ machte der CDU-Bundestagsabgeordnete Klaus-Peter Flosbach nach dem Vortrag deutlich, dass die Aussagen des Referenten seiner Meinung nach nicht mit dem übereinstimme, was die Politik in Berlin verantworte. Dass sich insbesondere viele reiche Deutsche dem Sozialstaat nicht mehr verbunden fühlten, und ihren Lebensmittelpunkt beispielsweise ins Ausland verleten, sah er als großes Problem für den heutigen Sozialstaat an. Erregt wurde diese Diskussion von Flosbach und Wohlfahrt auch am Büffet weitergeführt – ein Erfolg für die Veranstaltung, die zum Ziel hatte, die Diskussion über den Sozialstaat in verschiedenen Gremien neu zu entfachen.
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