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„Wir werden mit dem Teufel tanzen müssen“

bv; 7. Apr 2016, 06:00 Uhr
Bild: Bernd Vorländer --- Werner Becker-Blonigen in seinem Wohnzimmer.
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„Wir werden mit dem Teufel tanzen müssen“

bv; 7. Apr 2016, 06:00 Uhr
Oberberg – Wiehls Ex-Bürgermeister Werner Becker-Blonigen über die Flüchtlingsfrage, europäisches Versagen, die schwierige Partnerschaft mit der Türkei und die AfD.
Von Bernd Vorländer

Er war Jahrzehnte lang bis zum vergangenen Jahr Bürgermeister in Wiehl, hatte als Liberaler Traum-Ergebnisse, ist heute noch hochgeachtet und hat sich immer auch zu Fragen geäußert, die nicht nur mit seinem eigentlichen Aufgabengebiet im Oberbergischen zu tun hatten. Werner Becker-Blonigen (68) fühlte sich immer auch als eine Art Weltbürger und äußert sich im Interview mit Oberberg-Aktuell zu aktuellen Fragen in Deutschland und Europa.

OA: Machen Sie sich als wertegebundener Liberaler eigentlich Sorgen um dieses Land, wenn Sie sehen, dass eine nicht immer sachliche Flüchtlingsdiskussion erhebliche gesellschaftliche Auswirkungen haben kann?
Becker-Blonigen: Dieses Land war auf den Zuzug nicht vorbereitet und vor allem viele Bürger waren nicht vorbereitet, weil die Diskussion über Zuwanderung generell und die Frage, wie unsere Gesellschaft in den nächsten Jahrzehnten aussehen soll, immer verdrängt worden ist. Deshalb gibt es Menschen, die mit Fragen nach Migration und fremden Kulturen schnell überfordert sind. Migration nach Deutschland gibt es schon seit langer Zeit, aber die handelnden Verantwortlichen in der Politik haben es versäumt, dies zum Thema zu machen und auch Fehlentwicklungen klar anzusprechen. Stattdessen hat man gehofft, dass sich alles irgendwie fügt. Trotz dieses Mangels gibt es viele gute Beispiele für eine gelungene Integration – über die allerdings kaum berichtet wird.

OA: In der Diskussion wird gerne vieles miteinander vermischt, wird nicht mehr unterschieden zwischen Zuwanderern und Asylsuchenden. Warum ist das so und warum hat Deutschland bis heute kein Zuwanderungsgesetz?
Becker-Blonigen: Einerseits hätte dieses Land längst Kriterien entwickeln müssen, um festzulegen, welche Fertigkeiten und Fähigkeiten wir künftig brauchen. Das ist nicht geschehen. Zeitgleich müssen wir mit einem Flüchtlingszuzug klarkommen, den westliche Staaten zu einem nicht geringen Teil aufgrund militärischer Intervention selbst mit verursacht haben. Politik darf sich nicht wundern, dass dann auf diese schwierigen Fragen von einem Teil der Bürger einfache Antworten gegeben werden, die zwar nicht Ziel führend sind, aber irgendwo verständlich.


OA: Agiert Europa Ihrer Meinung nach nicht doppelzüngig – einerseits fördert man mit Milliardenbeträgen die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit von Entwicklungsländern, andererseits errichtet man etwa Zollschranken?
Becker-Blonigen: Genau das ist das Problem. Unsere Entwicklungspolitik gehört auf den Prüfstand: Hilft sie, Menschen in den Ländern der Dritten Welt Perspektiven zu eröffnen oder implantiert sie einfach nur Reflexe aus unserer Industriegesellschaft?    

OA: Und jetzt eine europäische Einigung über die Flüchtlingsfrage mit der Türkei, die mehr Fragezeichen als Antworten hinterlässt?
Becker-Blonigen: In der Tat, wenn man sich vergegenwärtigt, dass in der Türkei der Präsident einen Krieg gegen seine kurdische Minderheit führt. Die Bilder aus den Kurdengebieten sind genauso schrecklich wie die aus Syrien, wobei man natürlich auch sagen muss, dass die PKK nun nicht gerade zu parlamentarischem Ansehen kommen will. Wir werden aber mit dem Teufel tanzen müssen, weil die Türkei inzwischen fast jeden Preis verlangen kann, um die Flüchtlingsströme nicht zuzulassen. Es ist eine fatale Situation.

OA: Was ist Europa heute noch wert?
Becker-Blonigen: Die EU hat Risse bekommen, schon durch die enorme Erweiterung. Der Gemeinschaftsgedanke ist nicht mehr so ausgeprägt. Im Grunde sind wir heute ein Konglomerat von 28 Ländern, eine Art Freihandelszone, in der mühsam versucht wird, einen Nenner zu finden, dem alle zustimmen können. Das ist alles enorm zeitraubend und schwierig. Der EU fehlt die Verankerung bei den Bürgern. In Brüssel schwärmt eine Elite von der Kultur- und Schicksalsgemeinschaft Europas, aber vor Ort wird dies nirgendwo gelebt.

OA: In vielen europäischen Staaten gibt es rechtspopulistische Parteien – so jetzt auch in Deutschland. Ist das nur eine Momentaufnahme und woher kommt die Bereitschaft vieler Wähler, diesen einfach Argumenten zu folgen?
Becker-Blonigen: Die Strauß-Maxime, wonach sich rechts neben der Union keine Partei etablieren dürfe, ist nicht mehr ernst genommen worden, insofern ist das Erstarken einer Partei am rechten Rand nachvollziehbar. Man muss sich mit dieser Partei und ihren Wählern politisch auseinandersetzen, darf sie nicht ausgrenzen. Wenn es in manchen deutschen Städten Parallelgesellschaften gibt und die staatliche Ordnung nicht mehr greift, dann muss man sich mit diesen Problemen auseinandersetzen – unabhängig davon, wer sie anspricht.

OA: Was muss passieren, damit dieses Land die Herausforderung von einer Million Flüchtlinge besteht?
Becker-Blonigen: Der Staat muss Priorität auf die Betreuung dieser Menschen legen, auf allen Ebenen. Man darf nicht zur Tagesordnung übergehen und glauben, alles laufe wie von selbst. Das wäre ein fataler Trugschluss. Wir haben die Menschen aufgenommen, jetzt geht es an die Integration. Das wird ein Kraftakt für alle - für die deutsche Gesellschaft wie für die Flüchtlinge, die mit ganz anderen Mentalitäten und Kulturerfahrungen gekommen sind. In dieser Frage braucht es politische Führung, die Formulierung klarer Integrationsziele. ‚Wir schaffen das‘ zu sagen ist das eine. Dann hat man aber auch die Verantwortung, deutlich zu machen, wie das geschafft werden soll.
  
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