JUNGE LEUTE

„Kinder und Jugendliche verlieren sich in der Bedeutungslosigkeit“

lw; 05.05.2021, 06:00 Uhr
Symbolfoto: Bingo Naranjo auf Pixabay
JUNGE LEUTE

„Kinder und Jugendliche verlieren sich in der Bedeutungslosigkeit“

lw; 05.05.2021, 06:00 Uhr
Oberberg – Dr. Peter Melchers, Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie des Klinikum Oberberg, spricht im Interview mit OA über die Folgen der Coronapolitik für junge Menschen und deren Psyche.

Von Lars Weber

 

OA: Herr Dr. Melchers, sind die Jungen die größten Verlierer der Coronapolitik?

Dr. Peter Melchers: Was die Folgen dieser Politik angeht, haben Sie vermutlich recht. Da sind die Kinder und Jugendlichen gewaltig betroffen und es wird schlimmer, je länger es dauert. In welcher Form sie betroffen sind geht in der politischen Diskussion unter. Da geht es um Bildungsdefizite, um die „verlorene Generation“, um Milliarden für Förderprogramme. Das ist alles gut gemeint, aber die Schäden, die durch das Fehlen von Normalität und von Kontakten entstehen, die scheint keiner im Auge zu haben.

 

OA: Schwere Depressionen, Angststörungen, suizidale Gefährdung – diese Krankheitsbilder haben in den Kinder- und Jugendpsychiatrien bundesweit zugenommen, wie sieht das in Ihrer Einrichtung aus?

Dr. Melchers: So ist es auch bei uns. Vor allem tauchen auch untypische Erkrankungen und Verschärfungen auf. So hatten wir gerade acht Patientinnen mit Magersucht gleichzeitig auf der Station, das habe ich in 35 Jahren nicht erlebt. Sonst waren es nie mehr als drei. Aber wir erleben auch zunehmend Depressionen bei jungen Männern im Alter zwischen 15 und 17, was sehr untypisch ist. Da sind Jungs dabei, die zum Beispiel vorher begeisterte Fußballer, die gute Schüler und generell sehr aktiv waren. Jetzt sitzen sie nur noch zu Hause rum, schauen Netflix und sind für nichts mehr zu begeistern. Hinzu kommen bei vielen Kindern Angststörungen, auch durch die täglichen Bilder von Intensivstationen. Für sie suggerieren die Bilder: Es ist alles ganz schlimm und es wird auch noch schlimmer werden. Dabei ist Angst bekanntlich immer ein schlechter Ratgeber und hilft auch nicht, unvernünftige Menschen zur Vernunft zu bringen.

 

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OA: Wie schlägt sich die Entwicklung in Zahlen nieder?

Dr. Melchers: Bei den Anorexie-Erkrankten ist es eine Verdopplung im Vergleich zur durchschnittlichen Patientenzahl im Jahr, bei anderen Krankheitsbildern sind es 20 bis 40 Prozent mehr Patienten. Es gibt aber auch das Gegenteil, speziell in der Tagesklinik, wo besorgte Eltern ihre behandlungsbedürftigen Kinder nicht zu uns bringen aus Sorge vor einer Ansteckung und sich lieber einigeln.

 

OA: Sind die Wartelisten denn voll?

Dr. Melchers: Bei der Tagesklinik hält es sich noch im Rahmen, auch weil hier der Schwerpunkt auf den Jüngeren liegt und die Eltern sich da gerade eher abblockend verhalten. Für den stationären Bereich bei den Jugendlichen haben wir dagegen lange Wartelisten. Das gilt für den Bereich der Sucht, da sind die Wartelisten aber auch sonst lang, das hat nichts mit der Pandemie zu tun. Aber auch im allgemeinpsychiatrischen Jugendbereich gibt es jetzt extrem lange Wartezeiten.

 

OA: Wie sieht die Altersstruktur aus?

Dr. Melchers: Es zieht sich quer durch. Im Moment sind vor allem Jugendliche ab etwa zwölf Jahren hier, aber auch die kleinen Kinder, bei denen sich die Angespanntheit der Eltern zeigt durch den Wegfall von Kita und Kindergarten. Der Druck auf Familien ist erheblich gestiegen, was sich auch in der Zunahme von häuslicher Gewalt zeigt. Da ist zum Beispiel die momentane Kontaktbeschränkung auf eine Person ein Faktor, weil in manchen Familien die äußere Kontrolle fehlt, wenn mal Oma und Opa oder Freunde da sind und mal einen Rat geben oder besänftigend einwirken.

 

Zur Person

 

Dr. Peter Melchers (63) ist seit 1999 Chefarzt und Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie des Klinikum Oberberg. Vorher war er neun Jahre an der Kölner Uniklinik. Er studierte zunächst Psychologie, dann Medizin und absolvierte anschließend die Facharztausbildung in Köln. Seine Fachgebiete sind unter anderem die Suchtmedizin und die Schizophreniebehandlung.

 

OA: Was macht die Pandemie mit der Psyche der Kinder und Jugendlichen?

Dr. Melchers: Sie verlieren die Aktivitäten im richtigen Leben, die Anbindung und Kontakte, Freundschaften. Die Einbindung in größere soziale Gruppen fehlt. Sie erleben ein Stück Einsamkeit, was sie kompensieren mit ganz viel Medien. Da kommt es dann auch häufig zu medienspezifischen Störungen.

 

OA: Wie sehr fehlt die körperliche Nähe zu geliebten Personen und Freunden? Zum Beispiel die Umarmung zur Begrüßung?

Dr. Melchers: Die Nähe fehlt. Das ist auch ein Aspekt von Einsamkeit, dabei brauchen Menschen diese Nähe, um zu gedeihen, gerade auch die noch unfertigeren Menschen in der Gesellschaft. Wer psychisch gefestigt im Leben steht, hält so eine Situation länger durch als Kinder oder Menschen, die von Natur aus vulnerabler sind.

 

OA: Kommen die Kinder und Jugendlichen aus sämtlichen gesellschaftlichen Bereichen zu Ihnen?

Dr. Melchers: Das ist gerade ja auch eine große Diskussion: Die Kinder der Reichen schaffen das problemlos, die Kinder der Armen bleiben auf der Strecke. Das zeigt sich bei uns nicht, das ist eine extreme Verkürzung. Dort, wo sich die Eltern mehr kümmern, Zeit haben, anleiten, dort passiert viel weniger. Dort, wo dies nicht der Fall ist, bleiben Kinder schneller auf der Strecke. Da sind genauso auch recht wohlhabende Familien dabei. Klar ist aber auch: Wo ein Garten ums Haus ist, ist es für die Eltern einfacher als in einer beengten Zwei- oder Dreizimmerwohnung.

 

OA: Wie sieht die Behandlung betroffener Kinder und Jugendlicher aus?

Dr. Melchers: Wir versuchen zunächst über Psychoedukation allen Beteiligten verständlich zu machen, wie das Problem überhaupt entstanden ist. Wenn man versteht, wie ein Problem entsteht, kann man es besser ertragen. Dann versuchen wir auf allen Ebenen Veränderungen zu erzeugen, zum Beispiel reduzieren wir bei den stark Depressiven den Medienkonsum und machen dafür andere Dinge. Was gut geht ist Ergotherapie oder eine tiergestützte Therapie oder Sportangebote. Wir versuchen ein Stück Normalität wieder herbeizuführen. Außerdem gibt es viele Gespräche und je nachdem auch Medikamente.

 

OA: Wann sollten bei Eltern, Freunden oder auch bei einem selbst die Alarmglocken schrillen, welche Warnzeichen gibt es?

Dr. Melchers: Immer dann, wenn sich das Kind oder der Jugendliche in relativ kurzer Zeit in einer für die Eltern ungewöhnliche Art und Weise verändert. Das ist immer ein Alarmzeichen. Übertragen auf die Pandemie kann das bedeuten: Das Kind verliert an Aktivität, verliert Interessen, verliert den Antrieb. Dinge, die vorher wichtig waren, sind plötzlich bedeutungslos. Man könnte sagen: Die jungen Menschen verlieren sich in der Bedeutungslosigkeit. Bei vielen, die diese Entwicklung über längere Zeit durchmachen, ist es auch unwahrscheinlich, dass mit einer Rückkehr zur Normalität irgendwann die Entwicklung schnell wieder umzukehren ist. Wer auf der Weggabelung im Wald eine Stunde in die falsche Richtung läuft, muss auch erstmal wieder eine Stunde zurücklaufen, bis es wieder in die richtige Richtung gehen kann. Es kommt kein Hubschrauber, der einen schnell zurückbringt.

 

Über die Klinik

 

[Fotos: Lars Weber --- Die Tagesklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie des Kreiskrankenhauses Gummersbach befindet sich seit August 2000 in der sanierten und umgebauten Villa „Haus Pickhardt“.]

 

Die Arbeit der Kinder- und Jugendpsychiatrie am Kreiskrankenhaus Gummersbach begann im März 2000 zunächst als sehr kleine Einheit, die anfangs in der Klinik Marienheide untergebracht war. Sie wechselte ihren Sitz, als das für die Tagesklinik und die Institutsambulanz vorgesehene Gebäude in der Kaiserstraße in Gummersbach bezugsfertig war. Die Tagesklinik verfügt laut Klinikum Oberberg über zehn reguläre und zwei Notplätze.

 

Seit 2004 betreibt die Kinder- und Jugendpsychiatrie eine Station zur Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit psychosomatischen Erkrankungen. Im gleichen Jahr wurde eine Station zur qualifizierten Entzugsbehandlung und Akutbehandlung bei suchtkranken Jugendlichen innerhalb des Zentrums für Seelische Gesundheit in Marienheide geschaffen. Seit dem Sommer 2010 wird ist dort auch die allgemeine und akute Versorgung innerhalb der Kinder- und Jugendpsychiatrie möglich.

 

OA: Was könnten Spätfolgen sein, was wird in einigen Jahren von der Pandemie im Kopf und in der Psyche der jungen Menschen übrig sein?

Dr. Melchers: Die Frage ist schwer zu beantworten und kommt sicherlich auf die individuellen Voraussetzungen eines jeden an. Es gibt allerdings auch biologisch determinierte Entwicklungsschritte, die eng an das Alter geknüpft sind, dazu gehört zum Beispiel das Verständnis von Ironie, die sich aus der Kommunikation heraus ergibt. Ein anderes Beispiel: Wenn jemand schlecht hört und das Kind hört in dem Alter, wo sich die Sprachentwicklung vorbereitet, nicht, dann spricht das Kind auch nicht. Wenn dies nicht bemerkt werden sollte, vielleicht aufgrund fehlender Fürsorge, dann ist das Kind irgendwann drei Jahre alt und das Fenster, um diese Entwicklung nachzuholen, ist geschlossen. Das Kind wird dann niemals so sprechen lernen, wie es das gelernt hätte, wenn es früher aufgefallen wäre.

 

OA: Was raten Sie Familien in der jetzigen Situation, damit es gar nicht erst so weit kommt und sie Ihre Hilfe brauchen?

Dr. Melchers: Leicht gesagt, aber schwer getan: Über die Konflikte, die unter dieser Enge des Zusammenlebens auftauchen, zu sprechen. Außerdem so gut es geht innerhalb der Familie für alles, was wegfällt, Ersatz zu schaffen. Vor allem natürlich rausgehen, gemeinsame Ausflüge machen, alles tun, um Vereinsamung und auch Medienabhängigkeit aufzulösen.

 

OA: Um es in Schlagwörter zu fassen: Kommunikation und Aktivität.

Dr. Melchers: Genau, und Wahrnehmung, also aufeinander Acht geben. Die drei Dinge sind aber für viele schwer umzusetzen. Ich höre von vielen Leuten, die sagen: „Ich weiß überhaupt nicht mehr, wie ich Home-Office, Kinderbetreuung und Haushalt und Homeschooling unter einen Hut kriegen soll!“ Die Familienmitglieder werden angespannter und genervter – und machen Kommunikation, Aktivität und Wahrnehmung teils unmöglich.

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