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Attentat auf Charlie Hebdo hat offene Wunde hinterlassen

jt; 13. Feb 2015, 11:52 Uhr
Bild: Nils Hühn.
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Attentat auf Charlie Hebdo hat offene Wunde hinterlassen

jt; 13. Feb 2015, 11:52 Uhr
Oberberg - Nathan Hérault ist ein 16-jähriger Franzose aus La Roche-sur-Yon, der ein achttägiges Praktikum in der Redaktion von Oberberg-Aktuell macht – OA hat die Gelegenheit genutzt, um mit ihm über seine Meinung zu dem Attentat auf Charlie Hebdo und über die Auswirkungen auf die französische Gesellschaft zu reden.
Von Jana Tessaring

OA: Wo warst du als bekannt wurde, dass es ein Attentat auf das Satiremagazin „Charlie Hebdo“ gab? Wie hast du davon erfahren?
Nathan Hérault: Wir waren in der Schule und haben zu Mittag gegessen, dann kam ein Freund und sagte, dass es am Morgen ein Attentat gegeben hatte. Wir stellten uns die Frage: Was ist passiert? Also sind wir mit unseren Handys ins Internet gegangen und haben dann erfahren, dass es einen Anschlag auf Charlie Hebdo gab.

OA: Was war deine erste Reaktion?
Nathan Hérault: Ich war schockiert. Man wusste noch nicht genau, wie viele Menschen getötet worden sind. Wir haben zuerst nicht realisiert, was da passiert ist.

OA: Ging es in der Schule trotzdem normal weiter?
Nathan Hérault: Jeder hat die Neuigkeiten zu dem Attentat verfolgt. Der Unterricht lief aber weiter.

OA: Und nach der Schule habt ihr die Geschehnisse zuhause am Fernsehen verfolgt?
Nathan Hérault: Ja, auf allen Sendern war das Attentat das Hauptthema. Auch noch die folgenden zwei Wochen lang. Wir haben natürlich in der Familie auch über das Attentat gesprochen.



OA: Hattet ihr Angst vor weiteren Anschlägen?
Nathan Hérault: Nein, wir hatten keine Angst, aber wir waren schockiert und verletzt. Die Franzosen sind ziemlich stolz. Das war nicht nur ein grausamer Angriff auf die Menschen, sondern auch ein Angriff auf die Meinungsfreiheit, die für die Franzosen sehr wichtig ist. Cabu, einer der Karikaturisten von Charlie Hebdo, war ein wichtiger Mann für meine Eltern, weil er im Fernsehen ein Kinderprogramm hatte, für das er zeichnete. Er war der nette Mann im Fernsehen. Das er getötet wurde, ist schlimm.

OA: Dein Vater ist regelmäßiger Leser von Charlie Hebdo. Hattet ihr deswegen einen noch stärkeren Bezug zu dem Attentat als andere?
Nathan Hérault: Ob du diese Zeitschrift liest oder nicht, hat in diesem Moment keinen Unterschied gemacht. Wir empfanden alle Solidarität. Ich glaube also, dass das keinen Unterschied macht. Ein Franzose, der Charlie Hebdo gelesen hat, hatte die gleichen Gefühle, wie Franzosen, die diese Zeitschrift nicht lesen.

OA: Hat dieser Terror etwas in dir, deinem Freundeskreis und der Gesellschaft verändert?
Nathan Hérault: Da ich Journalist werden will, habe ich mich gefragt, ob der Beruf nicht zu gefährlich ist. Aber jetzt mach ich mir keine Sorgen mehr darüber. Aber ich denke, dass der Anschlag auf Charlie Hebdo vielleicht eine Tür für die Attentäter geöffnet hat. Die Grenze ist jetzt überschritten. Wenn diese Terroristen es geschafft haben, ein Attentat zu verüben, dann können das andere Terroristen auch.

OA: Hat sich dein Bild von Religion verändert? Und glaubst du, dass die französische Gesellschaft jetzt mehr Vorbehalte gegen islamische Religionen hat?
Nathan Hérault: Ich gehöre keiner Religion an, aber ich respektiere jede Religion. Mir ist es egal, ob jemand Christ oder Muslim ist. Und das bleibt so. Ich denke, dass ein Muslim nicht gefährlicher ist als ein Christ. Ich habe auch Freunde, die Muslime sind. Für mich ändert sich nichts, aber in der Gesellschaft gibt es Gewalt gegen Muslime. Ein Teil der Gesellschaft macht sie für das Attentat verantwortlich, doch die Muslime betonen meiner Meinung nach nicht genug, dass sie keine Terroristen sind.  Ich habe auch mitbekommen, was in Deutschland passiert ist. Ich meine die Pegida-Demonstrationen. Das finde ich schlimm.

OA: Müssen sich deine muslimischen Freunde vor anderen Mitschülern rechtfertigen?
Nathan Hérault: Nein. Da gab es keine Probleme. Ich lebe in einer kleinen Stadt, in der es relativ friedlich ist und es wenig Gewalt gibt. Meine muslimischen Freunde waren aber auf jeden Fall genauso schockiert und verletzt wie wir anderen, denn sie sind, wie wir, an erster Stelle Franzosen und danach erst Muslime.

OA: Welche Sicherheitsvorkehrungen gab es nach dem Attentat in Frankreich?
Nathan Hérault: Als ich nach Deutschland gereist bin, durften wir mit dem Bus nicht durch Paris fahren. Diese Maßnahme ist Teil des „Plan Vigipirate“ (Anm. d. Red.: französische Sicherheitsmaßnahmen zum Schutz gegen den Terror). Größere Gruppen müssen den Großraum Paris weitläufig umfahren. Man weiß noch nicht, wann diese Maßnahme wieder aufgehoben wird. Es gibt momentan sehr viele Polizisten in Paris.

OA: In Frankreich gibt es viele Ethnien und Glaubensgemeinschaften. Es ist ein multikulturelles Land. Gibt es in Frankreich, wie in Deutschland, eine Parallelgesellschaft? Und was müsste deiner Meinung nach passieren, damit sich das ändert, wenn es eine Parallelgesellschaft gibt?
Nathan Hérault: Es gibt in Frankreich Viertel, in denen die Muslime wohnen, Viertel, in denen die Juden leben und so weiter. Ich glaube, diese Trennung ist nicht so gut für die Gesellschaft. Die Einwanderer leben in den großen Städten oft in schrecklichen Vierteln. Das erschwert die Integration in die französische Gesellschaft. Wenn sie Tür an Tür mit den Franzosen leben würden, wäre das Verhältnis zwischen ihnen wahrscheinlich besser.

OA: Du glaubst also, dass es durchaus Potential gibt, das man enger miteinander umgeht. Sind die jüdischen oder muslimischen Franzosen deiner Meinung nach integriert? Sind sie auch zuerst Franzosen und dann erst Christen oder Juden?
Nathan Hérault: Wenn sie sich richtig integrieren wollen, dann sind sie für mich fast Franzosen. Es gibt aber auch Einwanderer, die sich nicht integrieren wollen. Das ist auch ein Problem. Wenn du in ein neues Land kommst, musst du auch dessen Regeln akzeptieren.

OA: Deine muslimischen Mitschüler sind also in die französische Gesellschaft integriert?
Nathan Hérault: Ja. In Frankreich gibt es etwas, was „Charta der Laizität“ heißt. Man darf in den öffentlichen Schulen keine religiösen Zeichen tragen, wie Kreuze oder Kopftücher. Das ist, denke ich, einer der Lösungen für das Problem der Integration. Religion spielt in den öffentlichen Schulen keine Rolle. Für meine Schulkameradin ist es beispielsweise kein Problem, dass sie kein Kopftuch anziehen darf. Sie zieht es eben nach der Schule wieder an. Für sie ist das normal, um sich zu integrieren. 
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