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„Man kann auch formal korrekt sehr kurzsichtig handeln“

Leserbrief; 15. Nov 2018, 10:35 Uhr
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„Man kann auch formal korrekt sehr kurzsichtig handeln“

Leserbrief; 15. Nov 2018, 10:35 Uhr
Lindlar – Stefan Brombach kritisiert den Umgang mit dem Thema Klause-Erweiterung und fordert, den Gesamtzusammenhang wahrzunehmen und nach „wirklich innovativen Lösungen für Lindlar zu suchen“.
Vorweg sei gesagt, dass meine Familie unmittelbar Betroffene dieser Erweiterung sein würden. Ich kann also nicht umhin zu sagen, dass ich ein privates Interesse an einer für uns positiven Weiterentwicklung dieser Auseinandersetzung habe. Doch darüber hinaus habe ich auch ein persönliches Interesse und eine persönliche Verantwortung als Mensch und als Teil einer „mehr als menschlichen Gemeinschaft“, wie es der Tiefenpsychologe Bill Plotkin formuliert. Ich schreibe dies, weil viele Befürworter immer ganz schnell und oft mit polemischer bis hin zu sarkastischer und ironischer Argumentation versuchen, die ganzheitlichen Interessen und die Geisteshaltung von Anrainern als eine rein „persönliche Betroffenheit“ und als „Einzelschicksale“ darzustellen und den Aktivisten unter den Anrainern ein wirklich übergeordnetes Interesse in Abrede stellen.

Was mich persönlich besonders schmerzt, ist der permanente Gestus der Unfehlbarkeit, welcher mich in den verschiedenen Äußerungen der Bürgermeister von Lindlar aber auch von Engelskirchen anmutet. Dass die „formalen Prozesse“ eingehalten werden und alles seine „sachliche Richtigkeit“ hat, muss ich als Bürger in einem Rechtsstaat schließlich voraussetzen und darf dies damit auch in einer kommunalen Verwaltung erwarten. Doch „sachlich richtig“ heißt noch lange nicht gut, werthaft und wertschätzend, nachhaltig oder weitsichtig. Ich kann formal korrekt sehr kurzsichtig und damit langfristig desaströs handeln. Eine persönliche Verantwortung und Rechenschaft ist schließlich nicht vorgesehen. Im schlimmsten Fall muss jemand im Falle des Falles die „politische Verantwortung“ übernehmen, ohne dass das persönliche Gewissen je dazu befragt werden müsste oder es sonstige Konsequenzen nach sich zieht.

Weitblick entsteht da, wo ich mich nicht hinter einer Form oder Rolle verstecke, sondern mich als echter Mensch zeige, meine wahrhaft einseitige und eingeschränkte Weltsicht – die ja jedem inne wohnt – zur Disposition stelle. Jeder Mensch und jede Organisation hat einen blinden Fleck und ein Bürgermeister, der gleichwohl im Vorstand einer Wirtschaftsorganisation sitzt, kann die Interessen der Bürger einfach nicht mehr angemessen und ausgewogen vertreten. Beide Rollen implizieren unterschiedliche Ziele und es bedarf für mich mehr als eine Promotion in Politikwissenschaft, um die sich wiedersprechenden Ziele in seiner eigenen Person zu vereinen. Der Bürgermeister von Lindlar kann nach meinem Dafürhalten daher weder ein Meister der Bürger im Sinne eines wahrhaften Vorbildes, noch im Sinne eines Könners sein. Denn dann müsste das ureigene Bestreben ja die Ermöglichung einer umfassenden Teilhabe der Bürger an der Entwicklung der Gemeinde Lindlar sein.

Letzterer Prozess wurde aber bisher an eine externe Beratung ausgelagert, damit formal wieder alles korrekt ist. Und doch bleibt in diesem Diskurs über die Zukunft Lindlars die konkret in Planung befindliche Erweiterung Klause V weitgehend unberücksichtigt. Ein Schelm, wer böses dabei denkt. Der Umgang mit dem Antrag auf Bürgerbefragung durch die Interkommunale Interessengemeinschaft wird deutlich machen, wie es um wirkliche Teilhabe in Lindlar unter den gegebenen Mehrheitsverhältnissen bestellt ist. Wir dürfen als Bürger also gespannt sein.

„Und ist man trautlich eingewohnt, so droht erschlaffen ...“. Diese Zeilen aus dem Gedicht „Stufen“ von Hermann Hesse sind für mich zur Metapher für die Homöostatik in Organisationen, Gruppierungen und politische Vereinigungen geworden, welche ob ihrer langjährigen und tradierten Mehrheiten gleichsam zum Opfer ihrer althergebrachten Denkmuster (Mindset) geworden sind. Ein Beispiel? Besonders schön zu sehen war dies auf einer der letzten Ratssitzungen in Lindlar, wo ein männliches Ratsmitglied der CDU Fraktion verspätet zur Sitzung erschien und darauf insistierte, dass „sein“ Platz, welcher von einer Frau aus der eigenen Fraktion eingenommen worden war, für ihn geräumt werden musste. Was dann tatsächlich auch so geschah! Ich war als Zuschauer dieser Szene bestürzt und habe mich fremdgeschämt. #MeToo gibt es also auch noch Lindlar.

Diesem „alten“ Mindset entspringt auch die Mantra-artig vorgetragene Argumentation der CDU Fraktion und vieler Befürworter bzgl.der Schaffung und des Erhalts von Arbeitsplätzen. Wir sollten uns eines ganz nüchtern klar machen. Die überwiegende Mehrzahl der aktuell existierenden Wirtschaftsunternehmen hat ein primäres Ziel. Und dieses Ziel lautet Gewinne zu erwirtschaften. Erst in den letzten 10-15 Jahren entwickeln sich auch Unternehmen, deren Gewinnfokus sich auch auf die Mitarbeitenden, die Gesellschaft und vielleicht sogar auf die Weltgemeinschaft, ausweitet. In Bezug auf Letzteres und um dem möglichen Vorwurf eines unrealistischen Gutmenschentums vorzubeugen, sei gesagt, dass dies jedoch erst 3-5% aller existierenden Organisationen der westlichen Welt sind. Doch zu meiner Freude existiert ein Demeter- Hof in direkter Nachbarschaft zur Klause und ein Zweiter in Lindlar-Breun. Es gibt sie also auch Unternehmen mit Weitblick in Lindlar. Wer also glaubt, das primäre Anliegen der überwiegenden Anzahl von Wirtschaftsunternehmen wäre die Schaffung und der Erhalt von Arbeitsplätzen, der ist im Anblick der Beispiele von BenQ (Kamp-Lintfort) in 2007 und Nokia (Bochum) in 2008, blauäugig und realitätsfern. Daneben stehen wir auch in Lindlar in einem Maße vor einem demografischem Wandel und digitaler Transformation, welcher unsere Arbeitswelt schon jetzt zunehmend beeinflusst. Und somit handelt jeder der unternehmerischen Versprechungen Glauben schenkt die über einen Horizont von 3-5 Jahren hinaus gehen fahrlässig.

Wenn heute noch jemand oder eine Partei für sich allein in Anspruch nimmt, eine einfache oder sogar die vermeintlich beste Antwort auf die gegenwärtig herausfordernden Fragen zu haben, dem begegne ich mit gebührendem Misstrauen. Denn in diesem komplexen Feld gesellschaftlicher Veränderung und Bewusstseinswandels, der sich beispielswiese auch in der hohen Beteiligung an der „formal eher unbedeutenden“ Unterschriftensammlung gezeigt hat, bedarf es schon einer besonnenen Abwägung und eines bedachten Vorgehens. Nicht nur in Sachen Klause V. Es gilt den Gesamtzusammenhang und die sich abzeichnende Zukunft wahrzunehmen, wirklich empathisch und nicht wie bisher geschehen rein faktisch und bewertend Hinzuhören. Und dann gemeinsam nach wirklich innovativen Lösungen für Lindlar zu suchen. Wir alle in Lindlar werden von Klause V betroffen sein; so oder so. Und deshalb wollen wir auch beteiligt werden, denn wir und/oder unsere Kinder wollen auch morgen noch hier leben (können).

Stefan Brombach, Lindlar

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