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„Ich bin überrascht, wie schlecht Kinder schreiben“

bv; 21. Jan 2019, 13:42 Uhr
Bereits im Grundschulalter wird die Schrift geprägt.
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„Ich bin überrascht, wie schlecht Kinder schreiben“

bv; 21. Jan 2019, 13:42 Uhr
Oberberg – Auch in Oberberg wird betont, wie wichtig die Handschrift für den Lernprozess ist, und dass ein selbst verfasster handschriftlicher Brief geradezu ein Kulturgut ist, doch die Wirklichkeit sieht anders aus.
Von Bernd Vorländer

Die Zahl der Jahrestage ist in den jüngeren Vergangenheit geradezu inflationär gestiegen und manche braucht es wirklich nicht. Der internationale Tag der Handschrift jedoch, der am kommenden Mittwoch begangen wird, ist wichtig. Schließlich deuten zahlreiche Untersuchungen darauf hin, dass im Zeitalter von PC, Tablet, Handy & Co die Qualität der mit der Hand geschriebenen Schriftstücke drastisch abnimmt. Digitale Kommunikation via Mail und Messenger hat längst das geschriebene Wort ersetzt. Nach Aussage von Bildungsforschern können etwa 70 bis 80 Prozent der Grundschüler nicht mehr richtig mit der Hand schreiben. Dabei ist dies aber nach Meinung von Medizinern sehr wichtig und hilfreich, da sie dadurch bessere motorische Fähigkeiten haben.


Balthasar Rechner kann vom Grundsatz her bestätigen, was etwa eine Studie des Deutschen Lehrerverbandes vor einigen Jahren zutage förderte, dass nämlich Grundschüler oft schon Schwierigkeiten haben, über einen längeren Zeitraum mit einem Stift zu schreiben. „Ich bin überrascht, wie schlecht manche Kinder schreiben“, verweist er als Rektor des Aggertalgymnasiums Engelskirchen auf etliche Beispiele an seiner Schule, in denen man selbst mit gutem Willen und Interpretationsfähigkeit das Geschriebene von Schülern nicht entziffern konnte. Die Korrektur von Klassenarbeiten wird so zu einem ungeahnten Hindernislauf. „Es kommt gar nicht selten vor, dass wir Arbeiten von den betreffenden Schülern noch einmal abschreiben lassen“, so Rechner. Und bei Korrekturen wird neben den eigentlichen Inhalten auch die Schreibkompetenz mitbewertet.

Am eigentlichen Problem ändert dies nichts. In den Grundschulen lernen Erstklässler zunächst eine  Druckschrift, im nächsten Schritt eine Schreibschrift. Welche Schreibschrift unterrichtet wird, hängt vom Bundesland, der Schule, manchmal sogar nur vom Lehrer ab. Ziel der Schreibschrift ist es, dass die Kinder nach der vierten Klasse eine flüssige Handschrift haben. Doch erreicht wird dieses Ziel immer seltener. Stattdessen wird von der Politik eine Digitaloffensive propagiert, Milliarden dafür ausgegeben, dass Schulen ans Netz kommen. „Einmaleins und ABC nur noch mit PC“, heißt es etwa aus dem Bundesbildungsministerium. Dabei verweisen Bildungsforscher darauf, dass mit Internet, Web und App keine Lehrmittel bereitgestellt würden, sondern lediglich eine technische Infrastruktur. Das beste Lernen geschehe über das Schreiben mit der Hand.


[Einerseits Segen, andererseits Ursache dafür, dass die Kultur des Handgeschriebenen einen erheblichen Rückgang verzeichnet: Computer & Co.]

„Schreiben sorgt für die Entwicklung der Persönlichkeit, vollzieht sich über Denkprozesse und ist irgendwie auch ein Spiegel der Seele“, so die Kalligrafie-Lehrerin Carola Lenk aus Gummersbach (www.papierfluesterin.de), die schönes Schreiben als ein schützenswertes Kulturgut versteht. „Von einem handgeschriebenen Brief sind wir doch alle berührt. Eltern haben Freudentränen in den Augen, wenn sie den ersten handgeschriebenen Satz ihres Kindes lesen“, so Carola Lenk. Deshalb komme es darauf an, Kindern diese Gabe zu erhalten und auch die Emotionalität beim Lesen wie beim Schreiben eines handgeschriebenen Briefes nahe zu bringen. Aber die Schönschreib-Künstlerin empfindet auch Computer als hilfreich, „denn sie erleichtern meinen Arbeitsalltag“. Im Zeitalter zunehmender Digitalisierung beobachtet Lenk ein größeres Bedürfnis vieler Menschen, sich in Handschrift auszudrücken. Die Kurse der Kalligrafin sind gut gefüllt. „Viele bekommen nach einer gewissen Zeit wieder Lust aufs Schreiben. Das hat auch etwas mit Emotionen zu tun.“

Ein Old-School-Schreiber ist Gummersbachs Bürgermeister Frank Helmenstein – und das gleich aus mehreren Gründen. Für ihn ist Handschrift auch eine Visitenkarte des gesamten Menschen. „Es hat eine andere, höhere Qualität, Briefe mit der Hand zu schreiben.“ Der Rathauschef nimmt sich Zeit, selbst zu schreiben, liest aber auch sehr gerne handgeschriebene Schriftstücke. Verpönt ist es in seinem Amtsbereich, Unterschriften etwa bei Einladungen rein automatisiert zu verschicken. Helmenstein unterschreibt jedes Exemplar persönlich. Noch lieber zelebriert er geradezu persönliche Briefe.

Der überzeugte Kugelschreiber-Verweigerer nimmt dazu seinen Füllfederhalter zur Hand. Auf Patronen verzichtet der Bürgermeister ebenfalls. Das Schreibgerät wird mittels Konverter und dem Tintenfass aufgefüllt. Ein Brief wird so zu einem kleinen Abenteuer, denn Kleckse oder einen Verschreiber kann man sich nicht erlauben. „Dann beginne ich lieber nochmal von vorne, verbessern gibt es bei mir nicht“, sagt Helmenstein. Für ihn ist mit der Hand ausgeführtes Denken ein „Ausdruck höchster Wertschätzung“. Und er sieht mit Sorge, dass der schleichende Abschied von der Schreibschrift auch einen Verlust von Kultur bedeutet.


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