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G8: 'Die Mutter aller Fehlentscheidungen'

fj, sas; 16. Mar 2018, 11:50 Uhr
Bild: privat --- Zükunftig haben die Schüler an Gymnasien wieder mehr Zeit, um zu lernen.
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G8: 'Die Mutter aller Fehlentscheidungen'

fj, sas; 16. Mar 2018, 11:50 Uhr
Oberberg - Die NRW-Landesregierung hat die Rückkehr zu G9 beschlossen, räumt den Gymnasien aber die Möglichkeit ein, bei der kurzen Schulzeit zu bleiben - Welches Gymnasium macht davon Gebrauch? - OA fragte nach.
Erst die von Anfang an umstrittene Einführung des Turbo-Abis, dann Jahre des Streits innerhalb der Politik und nun die Rolle rückwärts. Es ist schon ein Hin und Her mit der nordrhein-westfälischen Schulpolitik, findet auch Beatrix Will, Schulleiterin des Städtischen Lindengymnasiums Gummersbach. Die Landesregierung hat nach acht Jahren den Gesetzentwurf zur Abkehr vom Turbo-Abi beschlossen. Damit machen Gymnasiasten das Abitur wieder nach neun Jahren (G9), statt nach acht Jahren (G8). G8 bleibt dennoch weiterhin möglich und zwar genau dann, wenn sich die Schulen selbst dazu entscheiden. Ist dies nicht eine verlockende Möglichkeit angesichts der Tatsache, dass mit der Abkehr vom Turbo-Abitur neue Bücher angeschafft, neue Lehrpläne geschrieben und noch vieles mehr erledigt werden muss?

„Bei Abwägung aller Vor- und Nachteile – ganz klar nein“, spricht sich die Gummersbacher Schulleiterin deutlich für die Rückkehr zu G9 aus. „Ich habe bereits ein Meinungsbild eingeholt und kann sagen, dass weder Schüler, noch Eltern oder Lehrer für den Erhalt des verkürzten Abiturs sind“, so Will. Dem schließen sich alle Gymnasien im Oberbergischen Kreis an: Vom Wüllenweber-Gymnasium in Bergneustadt bis zum Theodor-Heuss-Gymnasium in Radevormwald sprechen sich die Schulleitungen für eine Abkehr vom Turbo-Abitur aus. Einzige Ausnahme: Das Homburgische Gymnasium Nümbrecht will sich laut der stellvertretenden Schulleiterin Therese Weier noch intern beraten, bevor es sich positioniert. Für Werner Kronenberg, Schulleiter des Engelbert-von-Berg Gymnasiums in Wipperfürth, ist die Sache dagegen ebenso klar wie für die Mehrheit seiner oberbergischen Kollegen: „Es gibt keinen vernünftigen Grund, um an diesem Unsinn festzuhalten“, erklärt er, dass die Einführung des Turbo-Abis für ihn „die Mutter aller pädagogischen Fehlentscheidungen“ darstellt.



Die verkürzte Schulzeit, so Kronenberg, habe kaum Raum für Schulkultur - also Angebote im Bereich Theater, Musik oder Sport – gelassen. So habe man den jungen Menschen auch weniger Möglichkeiten gegeben, sich zu entwickeln. Seine Kollegin Will kritisierte an der verkürzten Schulzeit vor allem, dass die zweite Fremdsprache schon ab der sechsten Klasse unterrichtet wurde. „Das wäre mit der Rückkehr zu G9 glücklicherweise vorbei und die Kinder haben wieder zwei Jahre Zeit, um ihr Englisch zu festigen, bevor sie mit Französisch oder Latein beginnen“, so Will. Dass die Schüler mit der Abkehr vom Turbo-Abi auch in allen anderen Fächern wieder mehr Zeit dafür bekommen, Inhalte aufzunehmen, begrüßen beide Schulleiter. Ein weiterer Vorteil: Schüler an G9-Gymnasien nehmen künftig an den zentralen Prüfungen am Ende der 10. Klasse teil und können damit die Mittlere Reife erwerben – statt sich wie zuvor für den mittleren Bildungsabschluss schon mit Oberstufen-Stoff herumschlagen zu müssen.

Eine Tatsache ist aber auch, dass an den Schulen zusätzlicher Raumbedarf entsteht, weil die Schüler länger an den Gymnasien bleiben. „Aufgrund rückläufiger Geburtenraten sinken auch die Schülerzahlen. Das gleicht sich dann aus“, meint Kronenberg und blickt dem gelassen entgegen. Und auch für Will ist dies kein Grund, an G8 festzuhalten: „Wir wissen, dass dieses Problem in den nächsten Jahren auf uns zukommen wird und können dementsprechend planen“, sagt sie. Offene Fragen wirft die Umstellung aber dennoch auf: Der letzte G8-Jahrgang macht sein Abi im Jahr 2025, der erste G9-Jahrgang im Jahr 2027. „Den dazwischen fehlenden Abiturjahrgang werden sicher auch die Hochschulen und ausbildende Unternehmen zu spüren bekommen“, so Will. Wenn das Jahr 2026 ein Jahr ohne Abitur an Gymnasien ist, gibt es im Schuljahr 2023/2024 aber auch keine Stufe elf – und damit ein Problem für alle Schüler anderer Schulformen, wenn sie in die Oberstufe eines Gymnasiums wechseln möchten.

Auch die Frage, was mit „Sitzenbleibern“ passiert, muss noch geklärt werden: Denn wer im letzten G8-Jahrgang die Einführungsphase nicht übersteht, sieht sich mit der Tatsache konfrontiert, dass unter ihm eine ganze Stufe fehlt: Die G9-Schüler kommen erst ein Jahr später in die Stufe 11. „Zu diesen Problemen muss die Politik noch Antworten liefern, ich könnte mir aber vorstellen, dass von Schüler zu Schüler im Einzelfall entschieden wird“, hat auch Will keine abschließende Antwort auf diese Frage. Man sieht: Es bleibt spannend in der Schulpolitik, auch wenn das ungeliebte „Turbo-Abitur“ endlich vom Tisch ist.

Hintergrundinformationen: Abkehr G8

Die nordrhein-westfälische Landesregierung hat nach acht Jahren den Gesetzentwurf zur Abkehr vom Turbo-Abi beschlossen. Damit machen Gymnasiasten das Abitur wieder nach neun Jahren (G9) statt nach acht Jahren (G8). Der Zeitplan von Schulministerin Yvonne Gebauer sieht vor, dass die Umstellung mit dem Schuljahr 2019/2020 beginnt und die Jahrgänge 5 und 6 der Gymnasien betrifft – also auch die Schüler, die zum kommenden Schuljahr (2018/2019) am Gymnasien aufgenommen wurden. G 8 bleibt dennoch weiterhin möglich und zwar genau dann, wenn sich die Schulen selbst dazu entscheiden, bei der verkürzten Schulzeit zu bleiben. Für den Erhalt von G 8 sind dann eine Zweidrittel-Mehrheit der Schulkonferenz sowie eine Abstimmung mit dem Schulträger notwendig.
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