Archiv

Deutsch-türkische Parallelwelten

Red; 25. Feb 2017, 05:00 Uhr
Archivbild: Hier in Bergneustadt soll der Imam Gülen-Anhänger ausspioniert haben, so der Vorwurf.
ARCHIV

Deutsch-türkische Parallelwelten

Red; 25. Feb 2017, 05:00 Uhr
Oberberg – Die Spitzelaffäre um Ditib-Imame reicht auch ins Oberbergische - Eine Chronik und Einordnung der Ereignisse.
Was sich in den vergangenen Wochen und Monaten in Bergneustadt und auch in Engelskirchen zugetragen hat, beinhaltet die typischen Bestandteile eines Agententhrillers. Es geht um den Vorwurf der Spionage, die Bundesanwaltschaft ermittelt, in der vergangenen Woche Wohnungsdurchsuchungen an mehreren Orten. Doch die mutmaßlichen Spitzel haben das Land bereits verlassen. Und mittendrin der kleine Verein „Aktive Lernhilfe“ aus Bergneustadt. Oberberg-Aktuell mit einer Chronik und Einordnung der Ereignisse.

Spätestens seit dem Putschversuch in der Türkei Mitte Juli des vergangenen Jahres ist die türkische Gesellschaft in zwei Lager gespalten – auch in Deutschland (OA berichtete). Auf der einen Seite stehen die Anhänger von Staatschef Recep Tayyip Erdoğan, der seit dem Putsch rigoros gegen seine Kritiker vorgeht und das parlamentarische Staatssystem in ein Präsidialsystem umwandeln möchte. Auf der anderen Seite die Gülen-Bewegung um den in den USA lebenden Prediger Fethullah Gülen. Er wird von der türkischen Regierung für den Putschversuch verantwortlich gemacht. Gülen gilt in der Türkei als Staatsfeind, seine Bewegung wird von der Erdogan-Regierung als Terrororganisation eingestuft.



Szenenwechsel nach Bergneustadt: Hier bietet der Verein „Aktive Lernhilfe“ schon seit einigen Jahren Nachhilfe- und Bildungsangebote für Kinder und Erwachsene an. Der Verein steht der Gülen-Bewegung nahe, was lange Zeit auch kein Problem war. Dies änderte sich radikal mit dem gescheiterten Putsch in der Türkei, wie Vereinsmitglied Özay Maydan in einem Fernsehbreitrag von „SPIEGEL  TV“ am vergangenen Sonntag berichtet. Viele Eltern schickten ihre Kinder nicht mehr zur Nachhilfe. Einigen Schülern hat der Verein selbst empfohlen, nicht mehr zu kommen. Zu groß ist die Angst, bei der nächsten Türkeireise ins Visier der Behörden zu geraten.

Schon am Tag nach dem Putschversuch war es vor den Räumlichkeiten der Lernhilfe im Bergneustädter Ortskern zu einer Demonstration gekommen. In der Folge soll der bis dahin in Bergneustadt ansässige Imam Nizamettin Saltan den Verein ausspioniert und seine Ergebnisse in die Türkei übermittelt haben. In dem Fernsehbeitrag wird aus dem Bericht des Imam zitiert. Dieser bezeichnet die Bildungseinrichtung demnach als „Hort des Bösen“, die in „enger Tuchfühlung“ mit den deutschen Behörden stehe. Die Bundesanwaltschaft ermittelt wegen des Verdachts der Spionage in diesem und weiteren Fällen. Unter anderem soll auch der Imam der Engelskirchener Moscheegemeinde Informationen über Gülen-Anhänger gesammelt haben.

Im Innenausschuss des Düsseldorfer Landtags berichtete NRW-Verfassungsschutzpräsident Burkhard Freier von mindestens 13 Imamen, die auf Anweisung der türkischen Religionsbehörde Diyanet Informationen über angebliche Gülen-Anhänger gesammelt haben sollen. 33 bespitzelte Personen und 11 Institutionen aus dem Bildungsbereich seien an das türkische Generalkonsulat in Köln und nach Ankara gemeldet worden. Die der Bespitzelung verdächtigten Imame gehören der Türkisch-Islamischen Union der Anstalt für Religion - kurz Ditib – an. Es ist der größte Islam-Dachverband in Deutschland und der Religionsbehörde Diyanet in Ankara unterstellt. Deren Imame, in Deutschland rund 1.000, werden vom Staat bezahlt.

Das Ermittlungsverfahren mit angestoßen hatte der Bundestagsabgeordnete Volker Beck. Der religionspolitische Sprecher der Grünen-Fraktion hatte im Dezember Strafanzeige beim Generalbundesanwalt gestellt, nachdem eine regierungskritische türkische Tageszeitung über die Spionageaffäre berichtet hatte. Ermittler der Bundesanwaltschaft hatten schließlich am 15. Februar die Wohnungen von vier Imamen in Nordrhein-Westfalen – darunter auch in Bergneustadt und Engelskirchen – sowie in Rheinland-Pfalz durchsucht und dabei Datenmaterial sichergestellt.

Die betroffenen Imame aus Engelskirchen und Bergneustadt waren aber bereits im Dezember zurück in die Türkei beordert worden. Es ist daher fraglich, wie viel mögliches Beweismaterial die Ermittler noch finden konnten. Insgesamt sind laut der Religionsbehörde Diyanet sechs Imame aus Deutschland abgezogen worden. Sie haben laut Diyanet-Chef Mehmet Görmez zwar Informationen über mutmaßliche Anhänger der Gülen-Bewegung in Deutschland weitergeleitet, den Vorwurf der gezielten Spionage weisen Diyanet und Ditib aber entschieden zurück. In verschieden Verlautbarungen ist einerseits von einer Panne, andererseits aber auch von „Amtsmissbrauch“ der Imame die Rede.

Der Moscheeverband Ditib steht seit Bekanntwerden der Spionagevorwürfe schwer in der Kritik. Mehrere hochrangige deutsche Politiker haben eine Aussetzung der Zusammenarbeit mit Ditib gefordert, bis die Ermittlungen abgeschlossen sind. Ditib selbst lässt den Sitz im Beirat für islamischen Religionsunterricht an NRW-Schulen derzeit ruhen. Murat Kayman, Koordinator der Landesverbände und Mitglied im NRW-Vorstand, ist am Mittwoch von seinen Ämtern zurückgetreten.

Die Spitzelaffäre mit Ausläufern in den Oberbergischen Kreis bereitet auch Landrat Jochen Hagt „große Sorgen“, wie er auf Nachfrage von Oberberg-Aktuell sagt: „Das hat mit unserem Verständnis von Rechtsstaatlichkeit nichts mehr zu tun. Es müssen auch für die türkischen Mitbürger die deutschen Rechtsmaßstäbe gelten – und das muss auch verstanden werden. Es gilt, den deutschen Rechtsrahmen deutlich zu machen und entschieden durchzusetzen.“

Bergneustadts Bürgermeister Wilfried Holberg spricht von einer „komplexen Situation“, die für Außenstehende kaum zu durchschauen sei. Die genauen Vorgänge innerhalb der türkischen Gemeinde in Bergneustadt entziehen sich auch seiner Kenntnis. „Ich habe lediglich Kontakt zu einzelnen Bürgern. Die Verunsicherung ist groß, aber auch das Unverständnis über die Kritik an Erdogan aus Deutschland.“ Eigentlich hatte Holberg die Moscheegemeinde regelmäßig besucht, beim vorerst letzten Termin vor Ort im September hatte er noch einen Projektvorschlag für ein gemeinsames Zusammenleben gemacht. Seitdem herrscht Funkstille: „Es kommt nichts zurück“, sagt Holberg enttäuscht.

Ausgelöst durch den Putschversuch sei deutlich geworden, wie viele türkische Mitbürger in Bergneustadt dem Staat Türkei enger verbunden seien als Deutschland, sagt Holberg. Dies habe ihn auch ein Stück weit „desillusioniert“, wie weit Integration wirklich fortgeschritten und was möglich ist. „Wir dürfen uns da keine Illusionen machen und müssen offen und ehrlich miteinander reden. Am Einhalten unserer hiesigen Regeln geht aber kein Weg vorbei, wenn ich mir Bergneustadt als Lebensraum aussuche.“

Froh ist Holberg darüber, dass das Zusammenleben in Bergneustadt trotz der politisch angespannten Lage „nahezu konfliktfrei“ weiterläuft. Es habe kurz nach dem Putschversuch Ausgrenzungsversuche, unter anderem durch zwei Geschäftsleute gegeben, die aber unterbunden worden seien. Die Mitglieder der „Aktiven Lernhilfe“ berichten davon, von ehemals guten Freunden und Nachbarn nicht mehr gegrüßt zu werden. Davon abgesehen gebe es aber keine Hinweise auf große oder gar gewalttätige Auseinandersetzungen. So etwas sei auch kontraproduktiv, so Holberg, denn in Bergneustadt steht ein Neubau für das türkische Kulturzentrum im Raum.

Holberg ist nach wie vor an einem aktiven Austausch interessiert. „Ich habe den Wunsch geäußert, den neuen Imam kennenzulernen. Ob und wann das passiert, weiß ich aber nicht.“ Sein Amtskollege Dr. Gero Karthaus ist hier schon einen Schritt weiter gekommen. Kürzlich haben sich drei neue Vertreter aus dem Vorstand des Moscheevereins aus Engelskirchen bei ihm vorgestellt. Zuvor hatte es monatelang keinen Kontakt gegeben, nachdem der Verein auf dem Gelände der Moschee Eyüp Sultan Camii entgegen vorheriger Zusagen eine große Werbetafel errichten ließ.

„Ich werte die Kontaktaufnahme als positives Zeichen“, sagt Karthaus. Dennoch hat auch er beobachtet, dass sich viele türkische Mitbürger der Gemeinde nicht kritisch mit den Vorgängen in der Türkei auseinandersetzen wollen. Von Spannungen zwischen Gülen- und Erdogan-Anhängern sei ihm aber nichts bekannt. Trotz des derzeit hochpolitischen Kontextes setzt Karthaus auf ein friedliches Zusammenleben der Religionsgemeinden. Wie sich der neu geknüpfte Kontakt zum Moscheeverein entwickelt, müsse zunächst abgewartet werden, sagt Karthaus. Ihm sei jedenfalls versichert worden, dass eine zweite geplante Werbetafel auf dem Gelände diesmal wirklich nicht gebaut werden soll.

Im Oberbergischen scheinen sich die Wogen der vergangenen Wochen und Monate also langsam zu glätten. Auf der großen politischen Bühne geht das Säbelrasseln allerdings weiter. Ein Sprecher der türkischen Regierung hatte die Ermittlungen der deutschen Behörden am Mittwoch als „Hexenjagd“ bezeichnet. Und nachdem kürzlich der türkische Ministerpräsident Binali Yildirim in Oberhausen auf Wahlkampftour war, will nun auch Staatschef Erdogan nach Deutschland kommen. Die rot-grüne NRW-Landesregierung hat bereits Widerstand gegen diesen Besuch angekündigt.
WERBUNG