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Brexit! Schock reicht bis nach Oberberg

fj; 24. Jun 2016, 14:08 Uhr
Bild: privat --- Die Briten verlassen die EU.
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Brexit! Schock reicht bis nach Oberberg

fj; 24. Jun 2016, 14:08 Uhr
Oberberg – Der in Gummersbach lebende Schotte Brian Stevenson ist sicher: Auf seine Heimat kommen unruhige Zeiten zu – IHK rechnet mit Mehrkosten beim Warenverkehr - Europaabgeordneter Reul: Die EU betritt Neuland. (AKTUALISIERT)
Seit heut Morgen steht fest: Großbritannien ist das erste Land, das die Europäische Union verlässt. Seitdem überschlagen sich die Ereignisse: Die Finanzmärkte beben, das Pfund ist auf den tiefsten Stand seit 1985 gefallen und der britische Premierminister David Cameron hat seinen Rücktritt für Oktober angekündigt. Der denkbar knappe Ausgang des Referendums lässt erahnen, wie gespalten das United Kingdom ist. Oberberg-Aktuell sprach mit Brian Stevenson, der in Kirkcaldy, einer Hafenstadt in Schottland geboren ist, über den Brexit, dessen Folgen und die Sorgen der Briten. Seit 1995 wohnt er im Oberbergischen Kreis, in Gummersbach lebt er gemeinsam mit seiner Frau, einer Deutschen, und der gemeinsamen Tochter, die beide Staatsangehörigkeiten besitzt.

OA: Sie gehören zum Lager „Remain“, sprachen sich also für den Verbleib in der EU aus. Wie geht es Ihnen am heutigen Morgen?

Stevenson: Ich bin davon überzeugt, dass Großbritannien als Teil der europäischen Familie viel stärker ist als alleine. Ich wusste, dass es ein knappes Rennen wird, aber zum Schluss sah es ja so aus, als lägen die EU-Befürworter vorne. Als meine Frau, meine Tochter und ich heute Morgen erfuhren, dass der Brexit beschlossene Sache ist, waren wir geschockt.

OA: Die Schotten haben sich mehrheitlich für den Verbleib in der EU ausgesprochen, ebenso die Iren. Geht nun ein Riss durch das Königreich?

Stevenson: Auf jeden Fall stehen Großbritannien unruhige Zeiten bevor. Ich gehe davon aus, dass die Schotten ein zweites Unabhängigkeitsreferendum fordern werden. In Nordirland wird die Partei Sinn Féin für ein vereinigtes Irland plädieren.

OA: Haben die Engländer all diese Folgen, die das Königreich ja nun mächtig ins Wanken bringen werden, nicht kommen sehen?

Stevenson: Ich denke bei der Wahl haben die Engländer in erster Linie an sich gedacht. Sie haben sich nie als vollständige Europäer empfunden. In der EU war man wegen der Vorteile. Die Skepsis wurde dann immer größer – und auch die Sehnsucht nach der Vorkriegszeit, in der England noch eine große Weltmacht war. Und viele denken tatsächlich, dass diese Zeiten nun wieder kommen werden.



OA: Und die Schotten sind nicht so europa-skeptisch wie die Engländer?

Stevenson: Auch in Schottland gibt es Kritik an der EU, natürlich. Aber das bedeutet hier nicht, dass man die EU verlassen will. Ich weiß aber, dass es in Schottland auch „taktische Wähler“ gab. Die also für den EU-Verbleib waren, aber trotzdem dagegen gestimmt haben. Sie wollten so ein neues Unabhängigkeitsreferendum erzwingen. Für sie sind die Engländer größere Feinde als die Europäer.

OA: Nun ist der Brexit beschlossen. Was befürchten Sie für Ihre Familie und für Ihre britische Heimat?

Stevenson: Für uns persönlich sehe ich keine allzu großen Veränderungen. Man wird mich wohl nicht ausweisen, da meine Frau Deutsche ist. Aber ich befürchte, dass es politisch und wirtschaftlich unruhig wird, besonders in der Zeit des Übergangs, die sich wohl über mehrere Jahre erstrecken wird. Bis es zu etwas Konkretem kommt, wird es sehr viel Verunsicherung geben, hauptsächlich wirtschaftlich.

OA: Das Pfund befindet sich ja schon jetzt auf einem historischen Tiefstand.

Stevenson: Das war zu erwarten. Märkte sind immer in Bewegung, die Frage ist jetzt: Wo pendelt sich das Pfund ein. Bleibt es beim Absturz oder klettern die Aktien wieder hoch? Das ist jetzt noch gar nicht abzusehen. Europa und Großbritannien stehen unruhige Zeiten bevor.

In den nächsten zwei Jahren werden die Handelsbeziehungen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich neu geregelt. Die Industrie- und Handelskammer (IHK) zu Köln geht in dieser Phase von Investitionszurückhaltung auf beiden Seiten aus. Mittelfristig, so die IHK, wird es zu Mehrkosten beim Warenverkehr mit der regionalen Wirtschaft kommen. Besonders die Chemie-, Pharma- und Automobilbranche ist durch rege Handelsbeziehungen zu Großbritannien betroffen“, so Alexander Hoeckle, Geschäftsführer International der IHK Köln. Kurzfristig sei zu befürchten, dass der Absatz deutscher Produkte in Großbritannien schwächer werde. Was der Brexit konkret für oberbergische Unternehmen bedeutet, ist laut Michael Sallmann, Leiter der IHK-Zweigstelle Oberberg, noch nicht absehbar. „Ob Autoteile, die in Oberberg gefertigt werden, letztendlich in Großbritannien endmontiert werden, wissen die Unternehmen oft selber nicht. Dazu sind die Verflechtungen zu komplex.“

Die IHK Köln, zu der die oberbergische Zweigstelle gehört, will mit betroffenen Unternehmen kurzfristig das Gespräch suchen um zu klären, wie sich diese Betriebe künftig aufstellen werden. „Für unsere regionale Wirtschaft ist der ‚Brexit‘ ein Rückschritt, den wir sehr bedauern. Hier im Herzen Europas sind wir auf die internationale Zusammenarbeit und den grenzüberschreitenden, offenen Handel angewiesen. Dass Großbritannien diese starke Gemeinschaft verlässt, sollte uns ermuntern, noch stärker für den Gedanken eines vereinten Europas zu werben - im Sinne der Zukunftsfähigkeit unserer regionalen Wirtschaft“, sagt Ulf Reichardt, Hauptgeschäftsführer der IHK Köln.

Völlig überrascht vom Ausgang des Referendums zeigte sich auch der bergische CDU-Abgeordnete Herbert Reul, Vorsitzender der CDU/CSU-Grupppe im Europaparlament. „Damit hatte ich nicht gerechnet. Nichtsdestotrotz müssen wir diese Entscheidung annehmen und umsetzen. Mit der Austrittsprozedur betritt die EU Neuland, aber es darf keine Rosinenpickerei geben. Das britische Verhältnis zur EU wird neu zu verhandeln sein. Wir brauchen zügig Klarheit über diese Neuformatierung, die im beiderseitigen Interesse liegt.“

Unabhängig von der britischen Ausstiegsprozedur müsse sich Europa nun auf seine Stärken besinnen und Ergebnisse liefern. Bei der Terrorismusbekämpfung und dem Schutz der EU-Außengrenzen müssen, so Reul, nationale Eitelkeiten zurückstehen.  „Nur gemeinsam kann Europa die aktuellen Herausforderungen meistern. Dann wird die EU auch wieder mehr Akzeptanz bei den Menschen finden und die Gesamtkonstellation des Erfolgsmodells EU stabil bleiben." 

„Heute ist kein guter Tag für Europa“, findet auch der oberbergische Bundestagsabgeordnete Klaus-Peter Flosbach. Die EU sei ein Garant für Frieden auf dem Kontinent, dass gerade die Briten beschlossen haben, aus der Union auszutreten, bedauere der CDU-Politiker sehr: „Auf sie ist ein großer Teil des Friedens und der Freiheit in Europa zurückzuführen.“ Flosbach vermutet jedoch, dass die Briten selbst am meisten unter dem Austritt leiden werden. „Die aktuellen Herausforderungen sind zu groß, um von einzelnen Staaten gelöst zu werden. Nichtsdestotrotz wird Großbritannien weiter ein wichtiger Freund und Partner Deutschlands bleiben. Wir müssen jetzt das Beste aus der Situation machen“.
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