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„Das Pflegestärkungsgesetz ist ein Witz“

js; 9. May 2015, 08:55 Uhr
Bild: privat.
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„Das Pflegestärkungsgesetz ist ein Witz“

js; 9. May 2015, 08:55 Uhr
Oberberg – Am 12. Mai wird beim internationalen Tag der Pflege bundesweit auf Missstände im Pflegealltag aufmerksam gemacht – Pflegeversicherung, Finanzierung und Zeitmangel stehen in der Kritik – OA sprach mit Kennern der Pflegebranche.
„Zeit gab es nicht“, erklärt Florian Meyer, „es ging darum, so schnell wie möglich den Aufgabenzettel abzuarbeiten. Nach der Übergabe wurden zuerst die Patienten geweckt. Dann wurden Tabletten verteilt, Spritzen gegeben und die Vitalzeichen kontrolliert.“ Der examinierte Krankenpfleger hat nach seiner Ausbildung im stationären und ambulanten Bereich gearbeitet. Seinen Arbeitsalltag in der stationären Pflege beschreibt er als Reihumverfahren: „Nach Grundpflege und Waschen wurde das Essen verteilt. Am Wochenende haben wir manchmal zu zweit zwischen 20 und 25 Patienten betreut. Die Zimmer wurden der Reihe nach abgearbeitet. Essen anreichen und auf Klingelzeichen reagieren. Der Patient am Ende des Gangs musste etwa 40 Minuten warten, dann war das Essen kalt.“


Zeit für Gespräche mit den Pflegebedürftigen habe er selten gehabt, der Aufgabenzettel sei meist einfach zu voll gewesen. Personalausfälle und Mangelbesetzung hätten den Arbeitsalltag zusätzlich erschwert. Zu wenig Personal und erkrankte Kollegen seien auch im ambulanten Bereich problematisch. Doppelschichten habe er deshalb bei einem Pflegedienst in privater Trägerschaft oft leisten müssen, erklärt der 28-Jährige. „Man hatte eine hohe Verantwortung, war auf sich allein gestellt, stand unter großen Zeitdruck und das Ganze wurde schlecht vergütet. Ich war von der Arbeit eingenommen. Anrufe nach Feierabend waren keine Seltenheit.“




„Für die komplette Körperpflege waren sieben Minuten eingeplant. Um den Patienten auszuziehen, zu baden, abzutrocknen und wieder anzukleiden ist das definitiv zu wenig Zeit“, berichtet Meyer weiter. Der enge Zeitrahmen, in dem Anfahrt und Versorgung erledigt werden mussten, die gleichzeitige Belastung durch Aktenpflege und Abrechnungen mit der Krankenkasse haben dem jungen Mann immer mehr zugesetzt. „Irgendwann ist das Fass übergelaufen“, sagt Meyer, „Die meisten Arbeitgeber, die ich getroffen habe, waren Negativbeispiele. Ich denke, dass es nicht überall so abläuft. Negative Aspekte, wie Zeitmangel, Mangelbesetzung, geringer Verdienst und schichtbedingt wenig Zeit für das Privatleben ziehen sich vermutlich aber durch den gesamten Bereich.“ Dem Pflegeberuf hat er inzwischen den Rücken gekehrt. Über den zweiten Bildungsweg holt der 28-Jährige sein Abitur nach, wartet derzeit auf einen Studienplatz für Psychologie.


Meyers Schilderungen verdeutlichen Kritikpunkte, die am 12. Mai während des internationalen Tags der Pflege in aller Munde sein werden. Unter dem Motto „Nicht nur Blumen brauchen Pflege“ will die Diakonie in Oberberg mit kreisweiten Veranstaltungen auf die unzureichende Situation in ambulanter und stationärer Pflege aufmerksam machen. Schwerpunktthemen werden die knappe Personalausstattung und die Finanzierung, jetzt und in der Zukunft, sein. In Zeiten des demografischen Wandels, in denen die Menschen immer älter und somit öfter pflegebedürftig werden, deckt die gesetzliche Pflegeversicherung den tatsächlichen Bedarf nicht.


Das System kränkelt, wie auch Sebastian Wirth, Geschäftsführer der Diakoniestationen an der Agger und in Windeck - Diakonie vor Ort, immer wieder feststellt. Für das neue Pflegestärkungsgesetz des Bundesgesundheitsministeriums findet Wirth klare Worte: „Das ist ein Witz“. Am 1. Januar 2015 sind alle Leistungsbeträge der Pflegeversicherung um vier Prozent angehoben wurden. Damit soll die Preisentwicklung über den gesetzlich vorgegebenen Zeitraum der vergangenen drei Jahre berücksichtigt werden. Viel zu wenig, findet der Diakonie-Chef. Fünf bis acht Prozent seien fair, wenn man Inflation, Lohnkostensteigerung und sonstige Kosten einberechne.


„Das System ist wackelig konstruiert. Niemand traut sich zu sagen, dass die Angehörigen die Leidtragenden sind. Wenn der zugestandene Betrag nicht zur Deckung der tatsächlichen Pflegeleistungen ausreicht, müssen die Angehörigen zuzahlen“, erklärt Wirth. Je nach Pflegestufe wird den Betroffenen finanzielle Unterstützung zugestanden. Davon können entsprechende Leistungen bei Pflegediensten gebucht oder Heimaufenthalte finanziert werden. Wirth erklärt, dass zur Einstufung in Pflegestufe eins ein mindestens 90-minütiger täglicher Pflegebedarf festgestellt werden muss. Von den dann zugestandenen 468 € könne ein Pflegedienst aber nur 20 bis 30 Minuten Pflege finanzieren.


Kopfschmerzen bereitet dem Diakonie-Geschäftsführer auch das Punktesystem, mit dem Leistungen beschrieben und an Zeiten geknüpft werden. Die Pflegeversicherung bezahle dementsprechend nur die eingekauften Leistungen und vorgeschriebenen Zeiten. „Das hat null mit den Arbeitszeiten zu tun, die wir tatsächlich leisten. Der Patient wird auf jeden Fall zu Ende versorgt, auch wenn die vorgegebene Zeit überschritten wird“, sagt Wirths. Diese Auffassung teilt auch seine Kollegin Claudia Eckstein. Als Pflegedienstleitung bei der Diakoniestation Gummersbach ist sie unter anderem für die Einteilung der Versorgungsfahrten zuständig.


„Ich versuche die Sache von der anderen Seite zu sehen. Die Menschen buchen unsere Leistung, nicht unsere Zeit. Es nützt niemanden etwas, wenn man in Hektik verfällt. Man muss sich auf jeden Patienten einlassen und ihm das Gefühl vermitteln, dass man für ihn da ist“, erklärt Eckstein. Ihre Stellvertreterin Jutta Lenz ergänzt: „Wenn etwas dazwischen gekommen ist, hat man natürlich Zeitdruck. Man kann aber nichts daran ändern und darf den Druck nicht an den Patienten weitergeben.“


Es sei nicht immer einfach geeignetes Personal zu finden, erklärt Eckstein weiter, besonders examinierte Kräfte seien schwierig zu finden. „Vielen ist die Belastung im ambulanten Bereich einfach zu hoch, schließlich müssen wir hier eine eins zu eins Versorgung leisten.“ Die einzelnen Touren, bei denen morgens, nachmittags und abends meist zwischen sechs und zwölf Personen betreut werden, seien eine Mischkalkulation aus leichteren und schwereren Pflegefällen. „Diese Mischkalkulation kippt inzwischen immer mehr. Die Zahl der multimorbiden Patienten steigt immer weiter an“, erklärt Eckstein und spricht von Personen mit Mehrfacherkrankung.


Die Zukunftsaussichten sind düster. Eckstein glaubt, dass man inzwischen an einem Endpunkt angekommen sei. „Wir werden in Zukunft grundsätzlich nicht mehr Gelder haben. Wie soll das Gesetz der Zukunft aussehen? Wenn ich daran denke, dass in einigen Jahren die Babyboomer pflegebedürftig werden, wird mir angst und bange.“ Auch Diakonie-Chef Wirths blickt nicht optimistisch in die Zukunft. „Die Gesellschaft ist nicht bereit mehr Geld ins System zu stecken. Die Pflegeversicherung ist 1995 eingeführt worden. Seitdem hat sich der Bedarf geändert und ist immer weiter gestiegen. Wir brauchen also mehr Geld, das sollte der erste Schritt sein“, stellt Wirths mit Blick auf steigende Lohnkosten, Inflation sowie mehr und stärker Pflegebedürftige fest.
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