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Tafeln zwischen Barmherzigkeit und Gerechtigkeit

Red; 21. Apr 2015, 15:37 Uhr
Bilder: privat --- Sie hatten zum Frühjahrsempfang eingeladen: (v. li.) Gerhard Marzinkowski (Geschäftsführer des Paritätischen), Diakoniepfarrer Thomas Ruffler, Martina Gilles (AWO-Geschäftsführerin) und Peter Rothausen (Geschäftsführer Caritasverband Oberberg). Rolf Braun (Kreisgeschäftsführer des Deutschen Roten Kreuzes Oberberg) fehlt auf dem Bild.
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Tafeln zwischen Barmherzigkeit und Gerechtigkeit

Red; 21. Apr 2015, 15:37 Uhr
Oberberg – Beim Frühjahrsempfang der Arbeitsgemeinschaft Freie Wohlfahrtsverbände wurden gesellschaftliche Entwicklungen und Kritik an der Tafelarbeit reflektiert.
Um die Ambivalenz in der Bewertung der Tafelarbeit ging es beim Frühjahrsempfang der Arbeitsgemeinschaft Freie Wohlfahrtspflege im Oberbergischer Kreis. Eingeladen zum dem Vormittag mit Musik, Film, Buffet und Gesprächen hatten Arbeiterwohlfahrt (AWO), Caritas, das Deutsche Rote Kreuz (DRK) und der Paritätische Wohlfahrtsverband. Diakoniepfarrer Thomas Ruffler begrüßte als Vorsitzender der AG Freie Wohlfahrtsverbände mehr als 80 Gäste im Gemeindehaus der Evangelischen Kirchengemeinde Gummersbach. Unter den Gästen waren Bundestagsabgeordneter Klaus-Peter Flosbach, Landtagsabgeordneter Roland Adelmann, Vizelandrat Friedrich Wilke, Kreisdechant Christoph Bersch, Superintendent Jürgen Knabe, Mitglieder des Diakonierats und der Fachkonferenz der Diakonie, Vertreter der Kommunen, des Kreises und der sozialen Einrichtungen im Oberbergischen.

Tafelarbeit, also die kostenlose Abgabe von gespendeten Lebensmitteln an bedürftige Menschen, ist nicht unumstritten. Die Wohlfahrtsverbände müssen sich wie bei jeder Tätigkeit im sozialen Bereich auch in der Tafelarbeit kontroversen Sichtweisen stellen. Die Kritik an den Tafeln lautet: Tafeln lindern Armut, aber sie leisten keinen Beitrag zu ihrer Überwindung. Schlimmstenfalls tragen sie ungewollt zur strukturellen Verfestigung von Armut bei. Tafeln verhindern Lebensmittelvernichtung, aber sie verändern nicht die Wegwerfgesellschaft. Und: Leisten Sie nicht ungewollt einen Beitrag zur Normalisierung der Armut als Teil der Gesellschaft? Ziel des Frühjahrsempfangs der Arbeitsgemeinschaft Freie Wohlfahrtspflege war es, mit einer kritisch-würdigenden Diskussion einen Beitrag zur eigenen Positionsbestimmung zu ermöglichen.


[Diskutierten über Sinn und Wert der Tafelarbeit: (v. li.) Prof. Dr. Benjamin Benz, Ludger Hengefeld, Karl-Otto Schiwek, Theresia Mittler, Dr. Johannes Stahl und Moderatorin Susanne Lang-Hardt.]
  

Bei einer Podiumsdiskussion kamen Vertreter der Oberbergischen Tafeln zu Wort. Theresia Mittler von der Tafel Oberberg Süd in der Trägerschaft der Evangelischen Kirchengemeinde Waldbröl und Karl-Otto Schiwek vom Sofa-Projekt „Alte Werkstatt – Suppenküche Dieringhausen“ schilderten die Tafeln als Orte der Begegnung, der Wertschätzung und des Respekts. „Wir sprechen die Menschen mit Namen an“, sagte Mittler. Ausgegeben werden keine Tüten mit Lebensmitteln, sondern es gibt eine Art Marktstand. Die Menschen kochen zusammen. Mehr als 90 Ehrenamtliche helfen bei der Tafel Oberberg Süd mit. Dass die Tafelnutzer in Waldbröl einen Bedürftigkeitsnachweis vorlegen, ist für Mittler ein Ausdruck von Gerechtigkeit: „Der Überfluss soll dahin, wo Mangel ist.“ In der Dieringhausener Suppenküche gibt es diese Nachweispflicht nicht. Die älteste Nutzerin ist 94 Jahre alt. Für sie sei das gemeinsame Essen auch ein Mittel gegen Einsamkeit, so Karl-Otto Schiwek, dafür spende sie zweimal im Jahr für die Einrichtung. Dreimal in der Woche kommen bis zu 50 vorwiegend ältere Menschen in die Alte Werkstatt.



Mit auf dem Podium saßen auch die Filmemacher Johannes Stahl und Ludger Hengefeld aus Köln sowie Benjamin Benz, Professor an der Evangelischen Fachhochschule Rheinland-Westfalen Lippe. Benz arbeitet im Fachbereich Soziale Arbeit, Bildung und Diakonie und hatte in einem Vortrag erläutert, wie seit 2004, seit der Einführung von Hartz IV, die Tafelnutzung immens gestiegen sei. Seiner Meinung nach hat der Sozialstaat zwar den Anspruch, den Bedarf an Ernährung, Unterkunft, Heizung bei Bedürftigen zu decken, löse ihn aber oftmals nicht ein. Der Sozialstaat müsse Armut und Ausgrenzung überwinden. Benz lobt das ehrenamtliche Engagement der Tafelmitarbeiter. „Wo haben Sie das denn, dass sich Menschen an so vielen Orten ehrenamtlich engagieren?“ Benz plädierte für eine Stärkung der Sozialpolitik: „Sie alle können sich fragen, wie Sie Bedürftige und Ehrenamtliche und auch Ihre Abgeordneten unterstützen.“

Stahl, Kurator des Kunstprojekts „Erbarmen als soziale Form“, und Hengefeld von der Caritas aus Köln zeigten ihren Film über das Kunstprojekt, das sich mit der Tafelarbeit auseinandersetzt. Ihnen geht es vor allem um die Teilhabe der Tafelnutzer an der Gesellschaft. Schon in der Anrede der Nutzer als Kunden werde ein Gefälle deutlich und es zeige sich eine wirtschaftliche Denkweise. Hengefeld brachte die Idee einer Tafel-Genossenschaft auf, in der die Nutzer zu Eigentümern werden. Aus dem Publikum meldete sich Mirjam Tertel aus Gummersbach. Sie sei dabei, mit ihrem Mann eine Tafel in Gummersbach-Steinenbrück zu gründen. Den Verein dazu gibt es schon: „Lebenswert“. Dieses Engagement beantwortete gleichsam die rhetorische Frage von Theresia Mittler von der Tafel in Waldbröl: „Muss es uns in Zukunft noch geben?“ Ja, denn Tafeln zeigen verbreitete gesellschaftliche Armut auf und stärken Solidarität. Das ist auch das Anliegen der Arbeitsgemeinschaft Freie Wohlfahrtsverbände.
  
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