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„Die Grenzen sind nur im Kopf vorhanden“

bv; 22. Jul 2014, 11:09 Uhr
Bilder: privat --- Kerstin von Scheidt und Harald Wandt gehören zu den Ultraläufern. Ihnen kann keine Strecke zu weit und keine Anstrengung zu groß sein.
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„Die Grenzen sind nur im Kopf vorhanden“

bv; 22. Jul 2014, 11:09 Uhr
Gummersbach – Die Ultraläufer Kerstin von Scheidt und Harald Wandt, die vor einigen Wochen an einem 24-Stunden-Lauf in Berlin teilgenommen haben, im Interview über die Faszination ihrer Sportart und Glücksgefühle in einer völlig neuen Dimension.
Von Bernd Vorländer

OA: Wie sind Sie zum Laufen gekommen?
von Scheidt: Es war vor 14 Jahren, ich habe mich mit einer Freundin nach den Kindern wieder sportlich betätigen wollen. Also sind wir in die Gummersbacher Lochwiese, die Kinder kamen in die Sandkiste und wir sind gelaufen, bald schon immer mehr und längere Distanzen um die Talsperren. Beeindruckt hat mich aber schon als Kind die norwegische Läuferin Grete Waitz, die schon früh 100 Kilometer-Läufe absolviert hat. Das wollte ich auch einmal schaffen.


[Kämpfen, nicht aufgeben und dann genießen - das Credo von Ultraläufer Harald Wandt.]

OA: Was ist am Laufen so schön und beeindruckend?
Wandt: Man findet zu sich selbst, spürt seinen Körper und nimmt ihn ganz anders wahr als im normalen Leben. Man lernt die Jahreszeiten anders kennen und bei einem 24-Stunden-Lauf auch Tag und Nacht. Es ist unglaublich beeindruckend, morgens um 4 Uhr den Sonnenaufgang am Rhein mitzubekommen. Man lebt und erlebt völlig neu.

OA: Aber Laufen ist doch nicht nur ein Genuss, bei diesen Strecken. Wie kämpfen Sie gegen sich selbst, hilft da Denken oder Abschalten?
von Scheidt: Nein, das Denken ist komplett weg, ich fühle mich meistens auf einer anderen Ebene, manchmal meditiere ich sogar. Man testet die eigenen Grenzen immer wieder aus, das ist sehr spannend. Diese Grenzen sind nämlich nur im Kopf vorhanden. Wer gut trainiert hat, kann eigentlich sehr weit laufen – und genießen.
Wandt: Natürlich spüre ich auch Schmerzen, muss mich nicht selten überwinden, aber das wird irgendwann von den Glücksgefühlen ausgeglichen. Je weiter man läuft, die Zuschauer sieht, die Mitläufer, umso glücklicher wird man. Und es stellt sich ein Gefühl des Stolzes und der Zufriedenheit ein. Wenn der Schmerz aber Überhand nimmt, kann man bei einem Ultralauf zum Rennarzt gehen, sich ausruhen, massieren lassen und dann später wieder einsteigen. Der Ultralauf bietet immer wieder neue Chancen.


OA: Wie teilt man sich bei einem Ultralauf die Kräfte ein und wie fühlt man sich nach 20, 40 oder 60 Kilometern?
von Scheidt: Beim ersten 24-Stunden-Lauf war ich unsicher, danach habe ich mir das Rennen immer in Sechs-Stunden-Etappen eingeteilt. Man darf nicht an die Gesamtzeit denken, das zieht einen runter, also muss man in kleinen Einheiten denken. Wer einmal seinen Rhythmus gefunden hat, läuft fast von alleine.

OA: Ultraläufer sind bei den Leichtathleten ja eher Exoten, das trauen sich nicht viele. Geht es bei Ihnen familiärer zu als in anderen Disziplinen?
Wandt: Ja, wir sind eine verschworene Gemeinschaft. Der Kampf gegen den Kontrahenten ist nicht so ausgeprägt. Man unterstützt sich, wenn es nicht so läuft und freut sich über gute Ergebnisse des Mitläufers. Und es gibt immer mehr Sportler, die sich für Ultraläufe begeistern können, weil der Genuss dort einfach viel größer ist als auf den Kurzstrecken.  
von Scheidt: Wir sind wie eine Familie. Wer etwa nachts einen Hänger hat, wird meistens von anderen so stabilisiert, dass er durchhält.


[Pokale und Medaillen sind der Lohn für echte Ausdauer.]

OA: Kann man vom Laufen süchtig werden? Sie waren vor kurzem krank bzw. verletzt. Wie ging es Ihnen dann?
Wandt: Ich hatte in der jüngeren Vergangenheit einen Krankenhausaufenthalt, durfte nicht laufen und kam mir vor wie ein Tiger im Käfig. Es war furchtbar und hat an meinem Ego gekratzt.
von Scheidt: Ich brauche das einfach als Ausgleich für meine Arbeit im Büro. Es macht mich glücklich, ich habe für mich meine Nische gefunden und kann es nur jedem empfehlen. Man fühlt sich einfach frei und jede Leistung wird gewürdigt – wo gibt es das noch?

OA: Wie groß ist die Angst vor dem Scheitern?
Wandt: Anfangs war diese Angst real, doch das verliert man, weil man – anders als etwa beim Marathon – immer nur gewinnt. Wer beim Marathon aussteigt, wird nicht gewertet, beim Ultralauf zählt jeder Meter. Es ist eigentlich völlig unerheblich, ob man beim 24-Stunden-Lauf 60, 80 oder 100 Kilometer schafft – die Spitzenleute knacken gar die 200 Kilometer-Marke – ein Glücksgefühl gibt es immer.
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