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„Es geht nicht in erster Linie um Sport“

Red; 15. Aug 2016, 12:05 Uhr
Bilder: privat --- Diakon Rolf Faymonville (rechts) mit seinem Kollegen Thomas Weber und Silber-Gewinnerin Monika Karsch.
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„Es geht nicht in erster Linie um Sport“

Red; 15. Aug 2016, 12:05 Uhr
Engelskirchen - Diakon Rolf Faymonville aus Engelskirchen ist als Olympia-Seelsorger mit den deutschen Athleten in Rio de Janeiro und berichtet auf Oberberg-Aktuell per Olympia-Tagebuch.
Rio – „cidade maravilhosa“ und Stadt der Gegensätze und sozialen Widersprüche. Reichtum und bittere Armut direkt nebeneinander. Mein evangelischer Kollege Thomas Weber und ich sind berührt von der Lebenswelt der „Cariocas“, die wir durchweg als hilfsbereit erleben. In den ersten Tagen orientieren wir uns, erkunden die Wege zu den Spielstätten – alles ist sehr weit entfernt, das Verkehrschaos ist groß. Staus ohne Ende – Rio braucht sicher noch etwas anderes dringender als Olympische Spiele.

Wir nutzen den letzten Tag vor Beginn, um auf den Pão de Açúcar zu fahren. Es ist überwältigend, die „Cidade maravilhosa“ – die wunderbare Stadt – von hier oben zu sehen. Es eröffnet sich uns eine ganz neue Sicht auf die Menschen und die Verhältnisse in dieser Stadt. Hochhäuser ziehen sich durch die Niederungen zwischen den zahlreichen, mit Wald bewachsenen Hügeln und Bergen. Der Corcovado mit der Christusstatue ist als einer der größten über 700 Meter hoch.

Wir genießen den Blick über die Bucht mit ihren vielen Inseln, die Stadt Niteroi, den Ausblick auf den Strand der Copacabana. Gott hat Rio wirklich gesegnet – so denkt man unwillkürlich, wenn man diese wunderbare Landschaft sieht und direkt gegenüber die Statue Cristo Redentor, die in unsere Richtung schaut. Dann fällt der Blick auf die zahlreichen Favelas, die sich die Hügel steil hinaufziehen, mit ihren ärmlichen Häusern. Ein Kontrast, der uns immer wieder berührt. Menschen in dieser Stadt zwischen Reichtum, abgesperrten und bewachten Wohnbereichen auf hohem Niveau und einfache Hütten, in denen Kinder leben, die nur kaum Chancen haben, aus dem Elend herauszukommen. Dennoch: Die Aussicht lässt einen ahnen, dass die Probleme aus dem Blick geraten können, wenn man nur weit genug darüber steht – oder „nach oben“ flieht.

Ich verstehe etwas besser, warum Papst Franziskus uns immer wieder auffordert, zu den Menschen zu gehen, uns zu ihnen auch „hinab zu begeben“, statt uns in unseren Kirchen, in unserem gesellschaftlichen Wohlstand abzuschotten und unsere heile Welt aufrecht zu erhalten. Das wäre so wie die eingezäunten und bewachten Wohnanlagen der Gutsituierten. Jesus ist auch zu den Menschen gegangen und hat nicht abgewartet, bis einer vielleicht auf ihn zukommt, um sich erlösen zu lassen.

Wir sehen die Eröffnungsfeier im Deutschen Olympischen Jugendlager auf der Videoleinwand. Die jungen Athleten, die hier eine Art Ferienfreizeit mit Bildungsprogramm und Besuch von Wettkämpfen machen, wohnen direkt neben unserem Quartier in der Deutschen Katholischen Gemeinde São Bonifacio und sind sehr offen für uns. Das Leitungsteam leistet eine professionelle Arbeit. Wir sprechen öfters miteinander und helfen uns gegenseitig.

Wir haben uns einige Karten gekauft und sind zu verschiedenen Wettkämpfen gegangen. Wir besuchen ganz bewusst auch Sportarten, die man nicht täglich im Fernsehen sieht. Es ist eine gute Möglichkeit, später mit den Sportlerinnen und Sportlern ins Gespräch zu kommen über die Ergebnisse. Vor allem aber hilft es uns, die jungen Athleten besser zu verstehen, wenn wir ihre Lebenswelt etwas kennenlernen. Außerdem treffen wir immer wieder Angehörige und Fans, mit denen wir ins Gespräch kommen und unserer Broschüre verschenken als Angebot zum Nachlesen und Meditieren, aber auch mit unseren Kontaktdaten. Für uns momentan noch die einzige Chance, neben den Abendveranstaltungen im Deutschen Haus den Olympiateilnehmern zu begegnen.

Am Samstagvormittag erhalten Thomas und ich unerwartet die Chance, Karten für den Turnwettbewerb zu bekommen. Wir kauften drei Tickets – mit dem Plan, das dritte jemandem zu schenken, der keine Karte hat. Als wir nach Sicherheitschecks im Olympiapark sind, geben wir unser drittes Ticket über den Zaun an eine Brasilianerin weiter, die draußen am Gitter einen Blick auf das Olympiagelände zu erheischen versucht. Sie ist überglücklich – und einige Zeit später sitzen wir zusammen in der Wettkampfhalle für „Ginástica atletica“.



Nach dem Wettkampf gehen wir zu Fuß nach Barra Beach ins Deutsche Haus. Dort begegnen wir wieder Sportlerinnen und Sportlern und Verbandsvertretern, mit denen wir ins Gespräch kommen. Ein tröstendes Wort zur knapp verpassten Bronzemedaille, ein Gespräch über die Vorbereitung auf Olympia und die gerade in die Brüche gegangene Ehe inklusive Sorgerechtsstreitigkeiten. Wir begegnen nicht bloß „Athleten“ oder „Funktionären“, sondern vor allem Menschen, die alltägliche und auch schwerwiegende Problem haben wie jeder andere auch – und die doch jetzt und hier alles daran setzen müssen, die jahrelang systematisch erarbeiteten Ziele auch zu erreichen.

Betroffenheit herrscht über die Verletzungen des deutschen Turners Andreas Toba (Kreuzbandriss) und des französischen Turners Samir Ait Said (Komplettbruch des Unterschenkels). Der Bruch war durch die ganze Halle zu hören und löste großes Entsetzen aus. Breite Bewunderung über den Kampfgeist der Turner nach der Verletzung von Andreas Toba, der trotz Verletzung weiterturnte und so die deutsche Mannschaft ins Finale brachte. Bei einigen wurde aber auch diskutiert, ob es richtig war, dass der Sportler mit dem Kreuzbandriss noch weiter kämpfen durfte. Sport und Ethik konkret: Wie viel Verantwortung für die Gesundheit muss wahrgenommen werden? Und die Olympiaträume eines hervorragenden Turners sind geplatzt. Wie kommt man mit so einem Rückschlag klar?

Ein Verbandsvertreter erzählt uns von den Erfahrungen, die er mit der Aufnahme von einem minderjährigen, allein reisenden Flüchtling und einer Flüchtlingsfamilie gemacht hat. Er zeigt großes privates soziales Engagement und kirchliche Bindung, was aber in seiner sportlichen Aufgabe nur am Rande eine Rolle spielen kann. Umso froher ist er, mit uns sprechen zu können. Und dass die Kirchen Seelsorger für das Olympiateam bereitstellen.

Am Montag stehen Thomas und ich wartend am Straßenrand. Der Verkehr in Rio ist unberechenbar. Christian Frevel, Pressesprecher von Adveniat, wollte uns abholen, um mit einigen Mitgliedern des DOSB-Präsidiums, der Deutschen Olympia Akademie und Angehörigen einen ökumenischen Gottesdienst auf dem Corcovado im Fußsockel der Christusstatue zu feiern. Endlich werden wir aufgepickt.


[Das Mannschaftshaus der Deutschen.]

Auf der Fahrt hören die Teilnehmerinnen und Teilnehmer mehr über die soziale Situation in Rio und ganz allgemein in Brasilien, auch über die Hilfsprojekte, die Adveniat hier betreut. Alle spitzen die Ohren, einige fragen engagiert und kritisch nach. Wir merken: Das ist konkrete Lobbyarbeit bei Menschen, die sich auch in Funktionärspositionen für soziale Problemthemen interessieren und engagieren, die aber auch genau wissen wollen, warum etwas geschieht. Stephan Jentgens, stellvertretender Geschäftsführer von Adveniat, erklärt die Zusammenhänge. Kurz vor dem Gipfel noch ein Blick über die Stadt, weil es oben ganz neblig ist. Wir sehen, wo die Projekte von Adveniat liegen – in der ganzen Stadt verteilt.

Der Hausherr Padre Omar und eine deutschbrasilianische Schülerin nehmen uns freundlich in Empfang und beginnen mit einem dort üblichen Gebet. Dann singen wir – begleitet von Gitarre und Klarinette: „Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen“. Ein erster Einstieg, denn Jesus in unserer Mitte ist es, der zu uns sprechen will. Wir schauen auf die Statue:

Der segnende Christus, der die Arme ausbreitet über einer Stadt mit so viel Elend. „Kommt alle zu mir, die ihr mühselig und beladen seid. Mein Joch ist leicht.“ Unser Predigttext. Es fällt uns leicht, eine Brücke zu schlagen zu dem Projekt „Rio bewegt. Uns“, auch zum Sport, zu Erwartungen in der Leistungsgesellschaft – und zur Botschaft Jesu. Dass er uns ganz persönlich anspricht, uns für und mit ihm einzusetzen für Benachteiligte. „Zeige uns den Weg hier in dieser Zeit“. Gott gibt Orientierung und Singen gehört zum Gottesdienst. Und die brasilianische Freude darf nicht fehlen. Anschließend spielen Christian Frevel und ich noch „The Girl from Ipanema“ – natürlich nach der Andacht.

Es ergeben sich im Nachhinein viele Gespräche zu den dem, was Thomas Weber und ich während der Andacht gesagt haben. Aber vor allem positive Rückmeldungen: „Das hat gut getan hier in dieser Kapelle“. Das obligatorische Foto mit Cristo Redentor, der heute ganz anders als auf den Postkarten in geheimnisvolle Wolken gehüllt ist, eine Hand ganz klar in eine Richtung weisend. Das passt zu den Gedanken aus der Andacht …

Endlich können wir am sechsten Tag das Olympische Dorf besuchen. Da es nur Tagesakkreditierungen gibt für Heimat-Trainer, Betreuer und Verwandte und Freunde verständlicherweise. Wir werden freundlich von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Organisationsteams empfangen. Sie helfen uns gern, wo es geht. Unsere Broschüre „Mittendrin“ verteilen wir in die Fächer der Mannschaftsverantwortlichen für die einzelnen Sportarten – mit der Bitte, sie weiterzuleiten und den Athletinnen und Athleten unsere Angebote bekannt zu machen. Mehr noch als wir erwarten konnten: man erklärt sich bereit, unsere Einladung zum Gottesdienst und unsere Kontaktdaten per Massen-SMS und E-Mail an die gesamte Mannschaft und ihre Betreuer zu senden.

Wir sehen das „Zentrum der Religionen“, das wie noch schnell improvisiert und nachgebaut räumlich einen wenig einladenden Eindruck hinterlässt. Die Ansprechpartner der Religionen sind sehr freundlich und machen ein wenig, die ungastliche Atmosphäre des Gebäudes wett. Es ist zwar gut und richtig, dass es dieses Zentrum gibt und es wird auch von den internationalen Athleten genutzt, aber es wäre schön, wenn das IOC etwas mehr Wert darauf legen würde, es auch gut unterzubringen. Wir werden daher auch vom deutschen Team gebeten, unser Gottesdienstangebot im Mannschaftsquartier zu machen, wo es ein wenig persönlicher und gemütlicher ist.

Die eineinhalb Stunden Fahrt zum Deutschen Haus haben sich für uns schon gelohnt! Thomas Weber und ich sind meist zu zweit unterwegs. Warum? Wir sind uns bewusst, dass Jesus seine Jünger zu zweit losschickte, um die Frohe Botschaft den Menschen weiterzusagen. Wir sind uns auch bewusst, dass, wo zwei oder drei in Seinem Namen beisammen sind, Er mitten unter uns ist. Und wir spüren, dass wir diese Gegenwart Jesu auch dann ein wenig erfahrbar machen können, wenn wir nicht gerade „fromme“ Gespräche führen.

Mein Fazit: Ich sehe viele verschiedene Sportarten und sehr unterschiedliche Athletencharaktere. Jede Sportart braucht besondere Typen. Wer sie verstehen will, muss sich auf ihre Welt einlassen. Das gilt auch für Funktionäre, Verbandsvertreter, Sponsoren usw. Im Sportmilieu ergeben sich seelsorgliche Gespräche nicht unbedingt nach Niederlagen als Trauerarbeits- oder Bewältigungsstrategiesitzung. Sie ergeben sich im alltäglichen Miteinander, beim gemeinsamen Weg zu den Wettkämpfen anderer Sportarten, beim Glas Bier oder Mineralwasser am Abend… Nicht planbar, sondern vom „kairos“ – vom passenden günstigen Moment – abhängig. Dafür muss man offen und flexibel sein.

Lobbyarbeit und Mitsprache in gesellschaftlichen ethischen und pädagogischen Belangen gelingt auch im Sport nur mit persönlichen Beziehungen, die aus Begegnungen und Gesprächen erwachsen. Dazu muss man bei den Menschen sein. Olympia-Teamseelsorge umfasst weitaus mehr als Sportlerbetreuung, die bei uns erst noch durch das Knüpfen von Kontakten wachsen muss. Was übrigens jedes Mal bei Olympischen Spielen wieder neu einsetzen muss! Und: Es geht nicht in erster Linie um Sport, sondern um alltägliche Themen, die alle Menschen berühren. Sport spielt da eine Rolle, wo es um die Einordnung der eigenen Leistung geht und um die verantwortungsvolle Ausrichtung des eigenen geht. Ein wichtiger Dienst, der Zeit und Kontinuität braucht, damit Beziehungen wachsen können.

Rolf Faymonville, Rio de Janeiro
  
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