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Jubel und Ernüchterung

bv; 25. Jun 2018, 15:24 Uhr
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Jubel und Ernüchterung

bv; 25. Jun 2018, 15:24 Uhr
Bergneustadt – Den Wahlsieg des türkischen Präsidenten Erdogan feierten seine Anhänger in der Nacht – Kritische Stimmen fürchten ein „Durchregieren“.
Von Bernd Vorländer

Der Jubel hätte bei einem Sieg der türkischen Nationalmannschaft nicht größer und lauter ausfallen können. Als am Sonntagabend feststand, dass Recep Tayyip Erdogan die Präsidentschaftswahlen am Bosporus erneut mit absoluter Mehrheit gewonnen hatte und mit der AKP auch seine Partei siegreich war, gab es kein Halten mehr. Wie in Berlin auf dem Kurfürstendamm oder in Duisburg feierten auch die Erdogan-Anhänger in Bergneustadt „ihren“ Präsidenten mit einem Autokorso, einem Hupkonzert und unzähligen türkischen Fahnen. Fast 60 Prozent der türkischen Wähler in Deutschland gaben dem wiedergewählten türkischen Präsidenten ihre Stimme, erst recht in Bergneustadt, wo jeder fünfte Einwohner türkische Wurzeln hat. Und der Präsident gilt auch hier seinen Anhängern als Heilsbringer, der den Fortschritt der Türkei organisiere, die Infrastruktur und das Gesundheitssystem ebenso verbessere wie die Lebensqualität der Menschen insgesamt, hörte man an diesem Abend im Jubel immer wieder. Zumindest bei denjenigen, die nicht reflektieren, dass in der Türkei tausende Oppositionelle und Journalisten seit Jahren ohne Anklage in den Gefängnissen sitzen und die Presse- und Meinungsfreiheit nur auf dem Papier existiert.   

Vom Wahlsieg Erdogans war Aziz Kocyigit nicht wirklich überrascht. Erschrocken habe ihn der Erfolg der nationalistischen rechten MHP. „Erdogan hat den gesamten Staatsapparat für seine Wahlkampfzwecke genutzt. Im Staatsfernsehen ist sechsmal so viel über ihn gesendet worden, als über alle Mitbewerber zusammen. Das hat natürlich auch auf die Türken in Deutschland Eindruck gemacht“, glaubt der Vertreter der Föderation demokratischer Arbeitervereine (DIDF). Obwohl 100.000 Menschen derzeit - in vielen Fällen grundlos - in Gefängnissen eingesperrt seien, zweifele   der überwiegende Teil der Türken in Deutschland nicht an dem „Modell Erdogan“. Auch in Oberberg sei die Zahl der Erdogan-Kritiker klein. „Vor uns als Opposition liegt noch viel Aufklärungsarbeit.“

Bergneustadts Bürgermeister Wilfried Holberg kennt „seine“ Stadt wie seine Westentasche. Doch die türkische Gemeinde bleibt für ihn ein Buch mit sieben Siegeln. Holberg drückt das salomonischer aus. „Das Leben der türkischen Mitbürger in Bergneustadt hat eine Innenbezogenheit“, sagt der Rathauschef.  Den Wahlausgang in der Türkei hat auch er erwartet. Aber er will so intensiv, wie es ihm möglich ist, mit der türkischen Gemeinde in seiner Stadt, die ja auch überwiegend Erdogan-Anhänger sind, im Gespräch bleiben. „Ich werde jedenfalls nicht dulden, dass die Angelegenheiten der Türkei auf Bergneustädter Boden ausgetragen werden.“ Holberg würde sich eine Beteiligung der türkischen Mitbürger am Gemeinwohl in der Stadt wünschen. Aber die findet so gut wie nicht statt. Immer noch sei man dabei, wechselseitig mehr Vertrauen zu entwickeln. Man spürt, dass es Holberg wichtig ist, in seiner Stadt den Raum für Miteinander zu öffnen. Doch in manchen Fragen ist er einigermaßen desillusioniert. „Ich habe kein Verständnis, wenn Kinder, die hier geboren wurden, in der Schule die deutsche Sprache nicht beherrschen“, sagt der Bürgermeister.     
  
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