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Aufgewacht statt aufgegeben

Red; 6. May 2010, 12:24 Uhr
Bild: Karin Vorländer --- Andreas Hofmann mit einer Pflegerin.
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Aufgewacht statt aufgegeben

Red; 6. May 2010, 12:24 Uhr
Bergneustadt - Nach acht Monaten ist Andreas Hofmann nach einem schweren Verkehrsunfall in der Einrichtung „Patienten im Wachkoma“ wieder aufgewacht.
Vom Karin Vorländer

Genau nach acht Monaten und drei Tagen ist Andreas Hofmann (Jahrgang 1962) aus dem Wachkoma erwacht, entgegen aller Prognosen von Fachleuten. Am 29. August vergangenen Jahres war der Service-Ingenieur auf dem Rückweg von der Arbeit mit seinem Motorrad von einem Siebentonner erfasst worden und musste reanimiert werden. Wie viele reanimierte Unfallopfer blieb der Vater zweier Kinder auf dem Weg zurück ins Leben im Wachkoma „stecken“. Seine Ehefrau Christine wird diesen Tag wohl nie vergessen. Es ist ihr Geburtstag.

Das „Apallische Syndrom“, wie das Wachkoma in der Fachsprache heißt, ist ein schlafähnlicher Zustand mit offenen Augen: Der Patient ist zwar wach, kann sich aber nicht für Laien erkennbar äußern, zeigt keine sinnvollen Reaktionen, schaut ins Leere. Die Menschen nehmen ihr Umfeld wahr, können es aber nicht zuordnen. Nach monatelangen Aufenthalten auf der Intensivstation eines Siegener Krankenhauses und einer renommierten Reha-Klinik bekam Christine Hofmann den niederschmetternden Bescheid: Außer dem Einpflanzen einer Pumpe, mit der ein Anti-Spasmus Medikament direkt verabreicht wird, könne man für ihren Mann nichts mehr tun.

Doch sie gab sich mit dem Urteil „austherapiert“ und dem Vorschlag, Andreas dauerhaft in ein Pflegeheim zu geben, nicht zufrieden. Sie nahm Kontakt zur privaten Wachkomaeinrichtung „Patienten im Wachkoma“ (PIW ) in Bergneustadt-Neuenothe auf. Dort, im „Trainingslager für das Leben“, wie Geschäftsführer Karl Heinz Andree die deutschlandweit einmalige Einrichtung gerne nennt, sollte Andreas zumindest für ein Leben in seiner vertrauten Umgebung, zu Hause in Mudersbach, fit gemacht werden. Denn das Motto der 1995 gegründeten Einrichtung heißt: „Wir sind kein Heim, wir holen sie heim.“

Als Christine Hofmann am 1. Mai die Nummer von PIW auf ihrem Anrufbeantworter blinken sah, befürchtete sie das Schlimmste. Als sie beim Rückruf gefragt wurde: „Wollen Sie mal mit ihrem Mann telefonieren?“, konnte sie die gute Nachricht kaum glauben. In dieser Nacht gab Andreas  die ersten Worte von sich. „Ich war völlig von den Socken“, beschreibt sie die erste Reaktion zwischen Unglauben und Freude.

Doch wirklich: Andreas beantwortet Fragen klar und deutlich mit „Ja“. Er reagiert auf Ansprache, verabschiedet sich mit einem Händedruck. Doch es steht noch ein hartes Trainingsprogramm, das wohl über Jahre durchgeführt werden muss, für das Unfallopfer und seine Familie bevor. Christine weiß, dass noch ein weiter Weg vor ihrem Mann liegt. Das sieht auch Arzt Hrachya Shaljyan so. Im Fokus der weiteren Therapie sieht er zunächst Bemühungen um eine Verbesserung von Sprache und Beweglichkeit. Erste Geh- und Stehversuche werden behutsam folgen, und irgendwann soll auch die Magensonde überflüssig sein.

Dass jemand nach so vielen Wochen aus dem Wachkoma aufwacht, gehört zu den absoluten Ausnahmen. In Neuenothe allerdings liegt die Erwachensquote erstaunlich hoch. In den letzten zehn Jahren sind 130 Wachkomapatienten und ihre Angehörigen, die rund um die Uhr anwesend sein können, in der privaten Pflege und Therapieeinrichtung betreut worden. Sieben Patienten sind ähnlich spektakulär wie Andreas Hofmann wieder erwacht. So auch der damals 19-jährige Benjamin Jung aus Siegen, der in Bergneustadt nach 56 Wochen aus dem Koma erwachte, und seine Freundin, die ihn ständig betreut hatte, mit den Worten „Ich liebe dich“ begrüßte. Er führt heute ein selbstständiges Leben.

Hrachya Shaljyan sieht die Ursache für die ungewöhnlichen Erfolge „in unserer starken Philosophie“. Für ihn und das 18- köpfige Team sind die Patienten in erster Linie Menschen, denen sie mit Hoffnung und Respekt begegnen. Menschen, die fühlen und empfinden können und für deren Genesung oder Wohlbefinden alles getan werden muss. Denn bei PIW ist man überzeugt, dass Menschen im Wachkoma mehr wahrnehmen, als gemeinhin für wahr gehalten wird.

Aufgeben gilt nicht, so heißt die Devise. „Hirnstrommessungen, die angeblich nachweisen, dass nichts mehr zu machen ist, interessieren uns hier nicht“, so Shaljyan. Umso mehr interessiert man sich in Neuenothe für emotionale Zuwendung, Kontakt und Ansprache. Kein Patient liegt den ganzen Tag im Bett. Es gibt einen Tagesablauf mit festem Rhythmus, mit Mahlzeiten, zu denen die Patienten aufgerichtet werden, mit Ergo-, Physio- und Logotherapie, mit regelmäßigem Stehen und Bewegung auf dem Fahrrad. Die Patienten werden von Trachealkanüle, Blasenkatheter sedierenden Medikamenten und Sondenkost entwöhnt, und es gibt eine aktivierende Wassertherapie. Die Menschen, die nach Neuenothe in das „Trainingslager für das Leben“ kommen, sind für Shaljyan und das Team nicht in erster Linie Kranke, sondern „Menschen, die eine Chance haben“. Andreas Hofmann hat sie genutzt, auch wenn er noch viel Hilfe braucht.
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